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des Bundes(heutigen Reichs-)kanzlers. Damals wurde, auf einen von v. Bennigsen ge—
stellten Antrag unter Zustimmung der verbündeten Regierungen, der norddeutschen Bundes-
verfassung, Art. 17, der Satz eingefügt: „Die Anordnungen und Verfügungen des Bundes-
präsidiums werden im Namen des Bundes erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegen-
zeichnung des Bundeskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmr.“ Die An-
nahme dieses Antrages Bennigsen (27. März 1867; vgl. Haenel, Studien 2 17—19)
bewirkte, worauf in anderem Zusammenhange, unten § 23, S. 110, zurückzukommen sein
wird, zunächst eine grundsätzliche Anderung der Position des Bundeskanzlers, welcher, bis dahin
als ein preußischer Beamter, als abhängiger Untergebener des preußischen Ministers des Aus-
wärtigen projektiert, munmehr aus diesem Abhängigkeitsverhältnis losgelöst, mit ministerieller
Selbständigkeit gegenüber dem Bundespräsidium ausgestattet und mit ministerieller Verant-
wortlichkeit gegenüber Bundesrat und Reichstag belastet wurde. Weiterhin aber wirkte das
folgenschwere Amendement zurück auf die rechtliche Natur und Stellung des Bundes-
präsidiums. „Die Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidiums“ will heißen:
alle Anordnungen, deren Erlaß nach der Verfassung Sache des Bundespräsidiums ist. Sie
allc, insbesondere also auch die im Bereiche der auswärtigen Politik, der Post= und Telegraphen-
verwaltung ergehenden Regierungsakte, sollen erlassen werden 9im Namen des Bundes“nnicht
vom König von Preußen kraft eigenen Rechts, nicht Kraft eines Hoheitsrechts Preußens über den
Bund, sondem als Akte des Bundes, als Ausflüsse einer Bundesgewalt, welche nicht sowohl
die Mitverbündeten Preußens als vielmehr auch Preußen selbst überragt und beherrscht. Damit
war die gesamte Regierungsgewalt, welche die Verfassung der Krone Preußen im Interesse
des Bundes zuschrieb, quoad ius für den Bund reklamiert; diese Gewalt hatte, unversehens,
möchte man sagen, ihr Subjekt gewechselt: aus der preußischen Hegemonie über den Bund
war eine Organschaft im Bunde geworden; der Herrscher „des mächtigsten und aus diesem
Grunde zur Leitung des Gemeinwesens berufenen Bundesstaates“ 1 verwandelte
sich in ein Organ der Gesamtheit, in ein „Bundesoberhaup““, welcher Titel, einige
Jahre später, durch das norddeutsche Strafgesetziuch vom 31. Mai 1870 (§§ 80, 94, 95) auch
formell und offiziell eingeführt worden ist. So ward die hegemonische Struktur der Verfassungs-
entwürfe durchbrochen, immerhin aber noch nicht ganz und restlos transformiert. Denn die
Tragweite des Amendements Bennigsen umfaßte sachlich nur die Zuständigkeit des
„Bundespräsidiums“ nach der norddeutschen Bundesverfassung, nicht weniger allerdings, aber
auch nicht mehr. Die Regierungsgewalt des Bundespräsidiums wurde
durch Art. 17 Satz 2 der nordd. BV. zur Bundesgewalt erklärt; die Kommandogewalt
des „Bundesfeldherrn“ dagegen und die des Königs von Preußen als Ober-
befehlshabers der Kriegsmarine wurde durch Art. 17 nicht berührt, blieb von
der konstitutionellen Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers frei und blieb unter der Herrschaft
der norddeutschen Bundesverfassung das, was sie nach deren Entwürfen sein sollte: preußische
Hegemonie. Erst bei der Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum Deutschen Reiche
verschwand dieser starke letzte Rest des „verlängerten Preußens“ aus der Verfassung, wurde
auch die Kommandogewalt über Heer und Flotte nationalisiert. Sie wurde es — nicht schon
durch die Novemberwerträge von 1870, welche eine Anderung in der staatsrechtlichen Stellung
des Bundespräsidiums und Bundesfeldherrn überall nicht beabsichtigten, wohl aber durch die
Einführung des Kaisertitels (s. oben S. 62) und durch die Folgerungen, welche die Neuredaktion
der RV. (16. April 1871) aus dieser Einführung gezogen hat.
Über die Vorgänge und maßgebenden Absichten bei dieser „Erneuerung der deutschen
Kaiserwürde"“ sind wir namentlich durch Bismarck (Gedanken und Erinnerungen 2 115 ff.)
genau unterrichtet. „Die Annahme des Kaisertitels war ein politisches Bedürfnis, weil er in
den Erinnerungen aus Zeiten, da er rechtlich mehr, faktisch weniger zu bedeuten hatte, ein
werbendes Element für Einheit und Zentralisation bildete“ (a. a. O. S. 115); — der Glanz
der alten Kaiserkrone, der Erinnerungswert dieses ehrwürdigen, tausendjährigen Symbols
deutscher Einheit sollte unverloren bleiben, sollte für das neue Reich nutzbar gemacht werden.
" Formulierung des Hegemoniegedankens in der Thronrede zur Eröffnung des verfassungs-
—
beratenden Reichstages; vgl. Preuß in der oben S. 101 Anm. 1 zitierten Abhandlung S. 428.