Deutsches Staatsrecht. 7
Staate untersagt ist, innerhalb des Gebietes Herrschaftshandlungen vorzunehmen (negative
Funktion des Gebietes). Der Staatswille, bezogen auf sein Gebiet, führt einen besonderen
Namen: Gebietshoheit. Ein selbständiges Stück der Staatsgewalt mit eigenem Inhalt
ist dies aber nicht, sondern nur die Gesamtbezeichnung für die soeben herworgehobene positive
und negative Funktion der Staatsherrschaft. Die Gebietshoheit ist nichts anderes als die Staats-
gewalt selbst in ihrer räumlichen Ausdehnung und Erscheinungsform.
Weiteres vom Staatsgebiet siehe unten § 14. Die Lehre vom Erwerb und Verlust der
Gebietshoheit, von der Gebietshoheit im Gemeinbesitz (Kondominat), von den Beschränkungen
der Gebietshoheit (Staatsdienstbarkeiten und Verwandtes) gehört in das Völkerrecht.
3. Die bisherigen Erörterungen ließen bereits mehrfach das dritte Element des Staats-
begriffs in den Gesichtskreis eintreten: die Staatsgewalt. Heißt es zum ersten: kein
Staat ohne Volk, und zum zweiten: kein Staat ohne Land, so steht drittens fest: kein Staat
ohne oberste Gewalt (Staatsgewalt, Staatsherrschaft, Imperium). Die Staatsgewalt ist
die höchste der in Volk und Land sich auswirkenden Gewalten; sie schließt Land und Leute mit
Herrscherkraft zu einer Einheit zusammen (Näheres über die Staatsgewalt s. § 3). Diese Ein-
heit ist der Staat. Die Synthese der drei Elemente ergibt die einfache Grunddefinition: der
Staat ist die Vereinigung der Menschen eines bestimmten Ge-
bietes unter einer obersten Gewalt.
II. Das Wesen des Staates. — Bis zu diesem Punkte des Nachdenkens über den Staat
herrscht im großen und ganzen Einigkeit unter den Vertretern der Wissenschaft, denen, die
waren und sind. Erst von hier ab, bei weiterem Forschen, bei dem Bestreben, das innerste Wesen
des Staates zu erkennen, setzt Streit ein. Es tauchen die Fragen empor: Wie ist die „Vereinigung“
des Volkes unter einer obersten Gewalt zu denken, wie zu erklären? Welchem sonst bekannten
rechts= oder sozialwissenschaftlichen Begriff entspricht sie, welches ist die Quelle der obersten,
der Staatsgewalt? Ist diese Gewalt der Ausdruck einer Einheit? Läßt sich diese Einheit rechtlich
konstruieren; läßt sich auf die Frage nach dem Wesen des Staates eine juristische Antwort geben?
Diese und andere Fragestellungen bilden das Arbeitsgebiet der sog. Staatstheorien.
Ihre Zahl und Mannigfaltigkeit ist sehr groß, vergleichbar etwa den Strafrechtstheorien, deren
Fülle ja gleichfalls einen Beleg für die bekannte Tatsache liefert, daß in den großen Grund- und
Streitfragen der Rechtswissenschaft jeder denkbare Standpunkt schon betreten, jede mögliche
Aasicht auch ausgesprochen ist. Lassen wir die markantesten Gruppen und Typen der Meinungen
über die Natur des Staates hier vorüberschreiten, so fällt der Blick zunächst auf eine Reihe von
nichtjuristischen, d. h. solchen Theoremen, welche eine rechts begriffliche Erklärung
des Staates nicht geben können oder dieses nicht einmal wollen.
Zu dieser Gruppe gehörten: 1. die sog. Tatsachen= oder Machttheorie. Ihr ist der Staat
einfaches Faktum, eine juristisch nicht weiter qualifizierbare Macht herrschender Personen über Be-
herrschte (so: griechische Sophisten, Spinoza, Haller; von Modemen neigen der Machttheorie
zu v. Seydel und Lingg). Diese Lehre ist von allen gangbaren Staatstheorien die un-
befriedigendste. Ein wünschenswertes Attribut der Staatsgewalt, tatsächliche Macht, erklärt sie
für den Staat selbst. Die Frage, woher diese Macht stammt, von welcher Art ihr Subiekt ist,
wird gar nicht aufgeworfen. Es ist der bewußte Verzicht auf jede rechtliche Erklärung
des Phänomens Staat, denn die nackte Tatsache, als welche der Staat hier hingestellt wird, ist
das Gegenteil einer Rechtstatsache. Auch zur Rechtfertigung des Staates (vgl. über dieses
Problem Jellinek, Staatsl., S. 177 ff.) trägt die Machttheorie nichts bei, vielmehr arbeitet
sie, teils ungewollt, teils gewollt, darauf hin, den Staat ethisch ins Unrecht zu setzen (so ins-
besondere die sozialistische und anarchistische Kritik des Staates der Gegenwart, bezeichnend
z. B. die bei Jellinek a. a. O., S. 187 angeführten Außerungen von Engels sowie Fr. Nietzsche.
Also sprach Zarathustra, S. 69 [„Vom neuen Götzen“.); 2. die theologische (theokratische) Staats-
theorie. Der Staat ist ausreichend erklärt durch das Fürwahrhalten der Tatsache, daß er auf
göttliche Einsetzung zurückzuführen ist, Gottes Willen unmittelbar verkörpert, ein bescheidenes
Seitenstück zu der Kirche. So Bossuet, Stahl u. a.: Diese „Theorie“ macht den Staatsbegriff
zum Gegenstand des Glaubens. Damit stellt sie sich aber außerhalb des Bereichs der Diskussions-
möglichkeit, denn Glaubensdinge sind zwar ein beliebtes, aber untaugliches Objekt wissenschaft-