Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 107 
des Wahlrechts. Der Reichstag des geltenden Rechts ist, bei größtenteils wörtlicher Überein- 
stimmung der Normen des letzteren mit dem angeführten Gesetz, betr. die Wahlen zum Volks- 
hause, von 1849 nach Anlage und Formation genau das „Volkshaus“ der Frankfurter Ver- 
fassung, also der „Reichstag“" von damals (s. oben S. 49), nur reduziert auf das Einkammer- 
system infolge Weglassung des „Staatenhauses“, welches heute durch die föderalistische Struktur 
der obersten Regierungsstelle, durch den Bundesrat, entbehrlich gemacht, ja mehr als ersetzt wird. 
In scharfem, voll beabsichtigtem Gegensatz zum Bundesrat ist der Reichstag ein streng 
unitarisch geformtes Reichsorgan (vgl. oben S. 69, 94). Er steht außer Zusammenhang mit den 
einzelstaatlichen Faktoren, er zeigt das Deutsche Reich nicht als „Bund“, sondern rein als Staat. 
Und dieser unitarische Charakter, welcher nur die ungebrochene Einheit der Nation, nicht das 
Farbenspiel ihrer partikularen Gliederung abbilden will, ist nachdrücklich verschärft worden 
durch das verfassungsändernde Reichsgesetz vom 24. Februar 1873 1. Nur in einem einzigen 
Punkte spiegelt sich der bundes staatliche Charakter des Reiches: darin, daß die Wahl- 
kreise unter Berücksichtigung der einzelstaatlichen Grenzen gebildet sind, derart, daß die 
Gesamtzahl der Reichstagsabgeordneten oder, was dasselbe sagt, der Reichstagswahlkreise durch 
§ des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 bzw. Art. 20 RV. zunächst auf die Einzelstaaten 
umgelegt ist, kein Wahlkreis die Gebiete mehrerer Staaten umfaßt und auch die kleinsten Einzel- 
staaten je einen Wahlkreis für sich selbst dann bilden, wenn ihre Einwohnerzahl hinter der Normal- 
größe der Wahlkreise — 100 000 Seelen — zurückbleibt. Doch liegen die Motive dieser Vor- 
schrift mehr auf verwaltungstechnischem als auf politisch-staatsrechtlichem Gebiet 2. Das uni- 
tarische Wesen des Reichstags wird dadurch nicht beeinträchtigt, wenn man sich den Art. 29 RV. 
(„Vertreter des gesamten Volkes"), sowie vor allem die grundlegende Bestimmung (§ 1) 
des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 vergegenwärtigt, wonach das Reichstagswahlrecht ein 
Recht nicht des Staatsangehörigen in seinem Heimatsstaate, sondern ein Recht des Deut- 
schen im Reich ist, ein Recht, welches ausgeübt werden kann, wo immer der Ausübende 
im Reichsgebiete seinen Wohnsitz erworben hat, so daß die Zugehörigkeit zu dem Einzelstaate, 
in welchem gewählt werden will, vollkommen gleichgültig und bedeutungslos ist. 
Die Formation des Reichstag s ist die einer einzigen, reinen Wahlkammer, 
gebildet auf Grund eines Wahlrechts, welches nach der Verfassung Art. 20 allgemein, 
direkt und geheim, nach dem Wahlgesetz für alle Wahlberechtigten ein gleiches ist s. 
Begriff und Beschränkungen der „Allgemeinheit" dieses Wahlrechts ergeben sich aus dem Wahl- 
gesetz vom 31. Mai 1869. Dieses verleiht das aktive Wahlrecht (die Wahlfähigkeit) allen 
Deutschen männlichen Geschlechts, welche das 25. Lebensjahr zurückgelegt haben, mit Ausnahme: 
1. derjenigen, welche unter Vormundschaft stehen; 2. derjenigen, über deren Vermögen der 
Konkurs gerichtlich eröffnet worden ist, und zwar während der Dauer des Konkursverfahrens; 
3. derjenigen, welche eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Gemeindemitteln beziehen 
oder im letzten der Wahl vorhergegangenen Jahre bezogen haben 4; 4. derjenigen, welchen 
durch strafgerichtliches Urteil die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt sind, und zwar für den 
Zeitraum der Aberkennung (§ 3 W.). Das Wahlrecht ruht für Personen des Soldaten- 
1 — welches RV. Art. 28 Abs. 2 aufhob. Die aufgehobene Bestimmung lautete: „Bei der 
Beschlußfassung über eine Angelegenheit, welche nach den Bestimmungen dieser Verfassung nicht 
dem ganzen Reiche gemeinschaftlich ist, werden die Stimmen nur derjenigen Mitglieder gezählt, 
die in Bundesstaaten gewählt sind, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist.“ Sie stand, 
während ihr Analogon, Art. 7 Abs. 4 RV. (oben S. 99) dem föderalistischen Wesen des Bundes- 
rates entsprechen mag, mit dem Unitarismus des Reichstages in vollem Widerspruch. Der Reichs- 
tag ist keine Kollektivvertretung der partikularen Staatsvölker, der Preußen, Bayern usw. Das 
„gesamte Volk“ des Art. 29 (s. oben im Text) ist das gesamte deutsche Volk. 
Übereinstimmend Triepel, Unitarismus und Föderalismus S. 14. 
* Staatsrechtliche und politische Betrachtungen über das Reichstagswahlrecht s. bei 
G. Meyer, Das parlamentarische Wahlrecht (1901) S. 235 ff. » 
Als Armenunterstützung im Sinne dieser Vorschrift sind nach dem Reichsgesetz vom 15. März 
1909 (RBl. 319) nicht anzusehen: 1. die Krankenunterstützung, 2. die einem Angehörigen wegen 
körperlicher oder geistiger Gebrechen gewährte Anstaltspflege, 3. Unterstützungen zum Zwecke der 
Jugendfürsorge, der Erziehung oder der Ausbildung für einen Beruf; 4. sonstige Unterstützungen, 
wenn sie nur in der Form vereinzelter Leistungen zur Hebung einer augenblicklichen Notlage ge- 
währt sind; 5. Unterstützungen, die erstattet sind.
	        
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