Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

116 G. Anschütz. 
hoheit) unter sich zu haben, mit der sie sich in die Innehabung und Ausübung der Staats- 
hoheitsrechte teilt. 
Die Einbeziehung Elsaß-Lothringens in das Reichsgebiet erforderte (s. oben S. 79) ein 
verfassungänderndes Reichsgesetz. Dieses erging als „Gesetz betr. die Vereinigung von Elsaß 
und Lothringen mit dem Deutschen Reiche"“ unterm 9. Juni 1871 („Vereinigungsgesetz“); aus 
seinem Inhalt ist hier zunächst herworzuheben die für die Organisation ebenso wie für die 
rechtliche Natur des Reichslandes grundlegend wichtige Bestimmung des § 3 Abs. 1: „Die 
Staatsgewalt in Elsaß und Lothringen übt der Kaiser aus.“ Der 
Kaiser — das heißt: er als Organ des Reiches. Es wollte gesagt sein: die Staatsgewalt 
in diesem Lande steht dem Reiche zu und wird durch den Kaiser ausgeübt; und zwar 
allein ausgeübt, soweit das Gesetz nicht ein anderes bestimmt. Hierbei ist es bis auf den 
heutigen Tag verblieben. 
1. Zunächst, soviel das Subjekt der Staatsgewalt in Elsaß-Lothringen anlangt. Dies 
Subjekt ist nach wie vor das Reich, allein und ausschließlich. Das Land ist kein Einzelstaat, 
gehört auch nicht zu einem solchen, sondern es ist Reichsland: ein Bestandteil, eine Provinz, 
nicht aber ein Mitglied des Reichs. Dem Reiche stehen in diesem seinem Lande nicht nur die 
ihm durch die Reichsverfassung gemeingültig übertragenen (s. oben § 11 Ih), sondern alle Hoheits- 
rechte zu; der deutsche Bundesstaat wird auf diesem Boden zum deutschen Einheitsstaat. 
2. Sodann aber auch in betreff der Organisation, der Verfassung des Reichslandes, 
ungeachtet der hierin seither eingetretenen Veränderungen und Wandlungen. Letztere gliedern 
sich in drei Perioden: die Periode der Diktatur, die des konstitutionellen Zentralismus und die 
der faktischen Autonomie. 
a) Die Diktaturperiode reicht von der militärischen Besetzung des Landes bis 
zum Inkrafttreten der Reichsverfassung, August 1870 bis 1. Januar 1874. Eröffnet wird sie 
durch eine militärische Diktatur, eine Okkupationsregierung, geführt zunächst im Namen der 
vier kriegführenden Parteien (oben S. 61), dann (1. Januar 1871) des Reichs, durch den mit 
Erlaß des gemeinsamen Oberfeldherrn, des Königs von Preußen, vom 14. August 1870 einge- 
setzten „Generalgouvemeur im Elsaß". An Stelle dieser vollkommen formlosen, rein mili- 
tärischen Diktatur trat auf Grund des Vereinigungsgesetzes vom 9. Juni 1871 eine in einigen 
Punkten rechtlich geregelte kaiserliche Diktatur: das Vereinigungsgesetz erklärt (s. oben) 
den Kaiser zum Träger der (durchweg als reichseigen gedachten) Staatsgewalt im Reichs- 
lande und überträgt ihm die Ausübung derselben in einer vorerst noch immer nahezu unum- 
schränkten Machtvollkommenheit. Nur bei Erlaß von Gesetzen für das Reichsland war der 
Kaiser an die Zustimmung des Bundesrates und bei Aufnahme von Anleihen oder Übernahme 
von Bürgschaften, welche die Reichskasse belasteten, auch an die Genehmigung des Reichstags 
gebunden; im übrigen regierte er — unter steter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, Art. 17 
RV., Verein.-Ges. § 4 — ohne rechtliche Schranken. 
b) Die Periode des konstitutionellen Zentralismus. — Nach 
Hinausschiebung des anfänglich gesetzten Termins (1. Januar 1873) durch das RG. vom 25. Juni 
1873 (R l. 161) trat die Reichsverfassung im Reichslande am 1. Januar 1874 in Kraft. Von 
nun ab wird das Land konstitutionell, aber auch streng zentralistisch und unitarisch regiert: rein 
als Provinz des Reichs, eine Provinz zunächst noch ohne eine den Schein von Autonomie und 
Selbständigkeit erweckende besondere Provinzialregierung. Die maßgebenden Faktoren be- 
finden sich, um es so auszudrücken, nicht in Straßburg, sondern nur in Berlin. Nicht Spezial- 
organe, sondern die gemeingültigen Organe des Reiches, Bundesrat und Reichstag, geben 
dem Reichsland Gesetze: nicht nur, wie selbstverständlich, Reichsgesetze, welche für das gesamte 
Reich erlassen werden, sondern auch „Landesgesetze“, d. h. solche, deren Gegenstand außerhalb 
der gemeingültigen Reichszuständigkeit (s. oben § 11 II) liegt und deren Geltung auf das Reichs- 
land sich beschränkt. Kein besonderer Provinzialminister des Kaisers für Elsaß-Lothringen, 
sondern volle und ausschließliche Verantwortlichkeit des Reichskanzlers auch für diesen 
Amtszweig der kaiserlichen Regierung. Der Einfluß der reichsländischen Bevölkerung auf die 
Regierung ihres Landes beschränkt sich auf die Entsendung einer entsprechenden Zahl von Ab- 
geordneten (15) in den Reichstag; im Bundesrat ist Elsaß-Lothringen, da es kein Staat des 
Reichs ist, nicht vertreten.
	        
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