Deutsches Staatsrecht. 119
b) Die Volksvertretung. — An Stelle des Landesausschusses ist, wie oben
S. 117 erwähnt, seit dem Verfass.-Ges. von 1911 der Landtag getreten: eine aus zwei
Kammem bestehende parlamentarische Versammlung. ·.
DetErstenKammergehörenalsMitgliederan(Verfass.-Ges.§6):1.KraftGesetzes:die
Bischöfe zu Straßburg und Metz, die Präsidenten des Oberkonsistoriums der Kirche Augs-
burgischer Konfession und des Synodalvorstandes der reformierten Kirche, der Präsident des
Oberlandesgerichts zu Colmar; 2. auf Grund von Wahlen: ein Vertreter der Universität Straß-
burg, ein Vertreter der israelitischen Konsistorien, je ein Vertreter der vier größten Städte und
der vier Handelskammerm, sechs Vertreter der Landwirtschaft, zwei Vertreter des Handwerker-
standes 1; 3. in Elsaß-Lothringen wohnhafte Reichsangehörige, welche der Kaiser auf Vorschlag
des Bundesrates ernennt. Die Zahl dieser vom Kaiser ernannten Mitglieder darf die der
übrigen Mitglieder nicht übersteigen.
Die Zweite Kammer geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung
nach Maßgabe des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1911 herwor.
Die Zuständigkeit des Landtags erstreckt sich, in Ubereinstimmung mit der des Reichstags
und der Volksvertretungen der Einzelstaaten (vugl. oben S. 108, unten S. 143 ff.) auf die Gesetz-
gebung und das Finanzwesen (vgl. das Nähere im § 5 des Verfass.-Ges., sowie unten 88 40, 47.
Jede der beiden Kammem des Landtags regelt ihren Geschäftsgang und ihre Disziplin autonom
und wählt ihre Präsidenten und Schriftführer. In Abweichung von dem sonst in Deutschland
geltenden Grundsatz, wonach die Parlamente über die Legitimation ihrer Mitglieder beschließen
(ogl. oben S. 108, unten S. 144), überträgt § 9 Verfass.-Ges. das Recht, über Einsprüche gegen
die Gültigkeit der Wahlen der Landtagsmitglieder zu entscheiden, dem künftig zu errichtenden
obersten Verwaltungsgerichtshof, bis zu dessen Errichtung einem Senate des Oberlandes-
gerichts.
Den Landtagsmitgliedern stehen die Immunitätsprivilegien der Reichstagsabgeordneten
zu (Verfass.-Ges. 88 20, 21; vgl. oben S. 10)9).
§ 25. Die Schutzgebiete .
„Schutzgebiet“ ist das Wort der deutschen Amtssprache für „Kolonie“. Die Schutzgebiete
des Deutschen Reichs sind genau das, was man sonst herkömmlicherweise unter Kolonien
zu verstehen pflegt: Länder niederer Zivilisation, welche sich in einem Abhängigkeitsverhältnisse
befinden, kraft dessen sie dazu bestimmt sind, den politischen und wirtschaftlichen Interessen
des Staates, von dem sie abhängig sind, dienstbar zu sein. Der Ausdruck „Schutz“ und die
Bezeichnung der Gewalt des Reichs über seine Kolonien als „Schutzgewalt“ (s. unten)
dürfen nicht irreführen. Es handelt sich überall nicht um eine bloße Schutzherrlichkeit — Su-
zeränetät, Protektorat — des Reichs über abhängige Staaten. Die deutschen Schutzgebiete sind
weder Staaten noch staatsähnliche Gemeinwesen noch überhaupt Gemeinwesen, vielmehr lediglich
Objekte der Reichsherrschaft, und zwar Gebiete, in denen außer dem Reiche niemand
herrscht, die dem Reiche en toute souveraineté et propriété. wie der ältere diplomatische Sprach-
gebrauch sich ausdrücken würde, gehören.
Der Kolonialbesitz des Reichs befindet sich teils in Afrika, teils in der Inselwelt der
Südsee, teils in Ostasien. Er ist zurzeit in acht einzelne „Schutzgebiete“ — administrative Ein-
heiten ohne juristische Persönlichkeit — eingeteilt: 1. Südwestafrika (das älteste der
1 Diesen Kategorien sollen noch drei Vertreter des Arbeiterstandes hinzutreten, sobald durch
Reichs= oder Landesgesetz eine Arbeitervertretung geschaffen ist, der die Wahl dieser Vertreter
übertragen werden kann.
„ Literatur: Bgl. zunächst die Darstellung des Kolonialrechts in dieser Enzyklopädie.
Sodann: Laband 2 265 ff.; Derselbe, Deutsches Reichsstaatsrecht (im „Offentl. Recht
der Gegenwart"), 6. Aufl., 196 ff.; G. Meyer, Die staatsrechtliche Stellung der deutschen
Schutzgebiete (1883); Frhr. v. Stengel, Die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete
(1901); Haenel, Staatsr. 1 836 ff.; v. Poser und Groß-Nädlitz, Die rechtl. Stellung
der deutschen Schutzgebiete (1903); Koebner, Einführung in die Kolonialpolitik (1908);
Edler v. Hoffmann, Einführung in das deutsche Kolonialrecht (1911); Gerstmeyer,
Das Schutzgebietsgesetz (1910).