Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 141 
1. die volljährigen Prinzen des regierenden Hauses; 2. die Häupter der in dem betreffenden 
Lande mit Standesherrschaften begüterten standesherrlichen Familien; 3. der niedere Adel 
des Landes, mit besonderer Berücksichtigung einerseits der ehemaligen Reichsritterschaft, ander- 
seits der Eigenschaft des Adels als einer Klasse von Großgrundbesitzern. Neben diesen Gruppen 
1—3 erscheinen in manchen Ersten Kammem 4. Vertreter der größeren Städte; 5. Vertreter 
der höheren Geistlichkeit beider Hauptkonfessionen; 6. Vertreter der Hochschulen (Universitäten, 
technische Hochschulen); 7. Vertreter von Berufskörperschaften (Handels-, Handwerks-, Land- 
wirtschaftskammem). überall endlich findet sich 8. die Kategorie der von der Krone „aus be- 
sonderem Vertrauen“ (§ 3 preuß. Verordn. wegen Bildung des HH. vom 12. Oktober 1854) 
auf Lebenszeit in die Erste Kammer berufenen Personen. — Für das Gesamtbild ist zunächst 
bezeichnend das Zurücktreten des gewählten Elementes. Dieses fehlt in 
den größten Staaten (Preußen, Bayern) gänzlich; in den andem erscheint es, aber nicht in 
Gestalt von Erwählten weiterer staatsbürgerlicher Volkskreise, sonderm als Gruppen von Inter- 
essenvertreterm (Vertretern des qualifizierten lalten, befestigten) Großgrundbesitzes, des Handels, 
Handwerks, der Landwirtschaft), welche aus der Mitte ihrer Standes= bzw. Berufsgenossen 
von diesen bezeichnet werden. Demgemäß bestehen die Ersten Kammem der Regel nach nur 
aus Personen, welche zu dieser Mitgliedschaft entweder unmittelbar kraft Gesetzes oder durch 
Verfügung des Monarchen, sei es mit erblicher Berechtigung, sei es auf Lebenszeit oder be- 
stimmte Zeit, sei es endlich für die Dauer eines von dem Betreffenden bekleideten Staats- oder 
Kirchenamtes berufen werden. Das Recht des Monarchen, Vertrauensmänner nach seiner 
Auswahl zu Mitgliedem der Ersten Kammer zu ernennen (oben Nr. 8), pflegt zahlenmäßig 
beschränkt zu sein (so überall außer in Preußen: Schaffung einer der Regierung genehmen 
Majorität durch „Pairsschub“ infolgedessen nur hier zulässig). 
Die süddeutschen Ersten Kammern waren früher durchweg fast reine Adels- 
ktammern, in denen Prinzen, Standesherren und niederer Adel dominierten. Diesen aus- 
geprägt aristokratischen Charakter hat die bayerische Kammer der Reichsräte bis heute bewahrt, 
während in Württemberg, Baden, Hessen durch die Verfassungsreformen von 1906 bzw. 1904 
bzw. 1911 die Ersten Kammern durch Elemente nicht geburtsaristokratischer Natur, die ihnen bis 
dahin fremd waren, verstärkt worden sind: Vertreter der Geistlichkeit, der wirtschaftlichen Berufs- 
stände, der Städte und höheren Kommunalverbände, der Hochschulen. 
Die Eigenart der sächsischen Ersten Kammer besteht in der engen Anlehnung ihrer 
Formation an die alte Ständeversammlung des Landes, deren drei Gruppen: Prälaten, Grafen 
und Herren, Ritterschaft, Städte, den wesentlichsten Teil der Ersten Kammer bilden (vgl. Otto 
Mayer, Sächs. Staatsr. 15). 
Daspreußische Staatsrecht zeigt in bezug auf die Zusammensetzung der Ersten Kammer 
starke anfängliche Schwankungen und Veränderungen, deren Verlauf von 1848—1854 zu einem 
vollständigen Wechsel der ursprünglich leitenden Prinzipien führte. Das Jahr 1848 hatte gerade 
in bezug auf die Bildung der Ersten Kammer mit den aristokratischen Überlieferungen des preußi- 
schen Staates, mit den politischen Folgerungen, die man bis dahin aus dem typischen, noch ganz 
geburtsständischen Gesellschaftsgefüge der östlichen Landesteile gezogen hatte, radikal brechen 
wollen. In grundsätzlicher Abweichung von dem Vorbilde der deutschen Mittelstaaten und in enger 
Anlehnung an die belgische Verfassung von 1831 gedachten der Verfassungsentwurf der National- 
versammlung (s. oben S. 46) und die ihm folgende „oktroyierte“ V U. vom 5. Dezember 1848 
die Erste Kammer als reine Wahlkammelr zu formieren. Von einer Pairie kraft Gesetzes 
oder königlicher Verleihung, von erblichen oder lebenslänglichen Mitgliedern der Ersten Kammer 
ist nirgends die Rede; die Krone hat nicht das Recht, von den Mitgliedern der Ersten Kammern 
auch nur ein einziges zu ernennen: alle werden gewählt, und zwar nach einem Wahlrecht, dessen 
Gestaltung (nach dem Wahlgesetz vom 6. Dezember 1848) deutlich genug zeigt, wie gänzlich ab- 
geneigt man damals war, der Aristokratie der Geburt und des Grundbesitzes, den „Herren von 
gestern“ eine irgendwie verstärkte, potenzierte Vertretung im Landtage zuzugestehen. Das aktive 
Wahlrecht zur Ersten Kammer war nach dem angeführten Gesetz vom 6. Dezember 1848 von dem 
zur Zweiten Kammer lediglich durch das Erfordernis eines — nicht sehr erheblichen — Vermögens- 
zensus verschieden; die Wählbarkeit besaß jeder, der seit fünf Jahren dem preußischen Staate an- 
gehörte und das 40. Lebensjahr vollendet hatte. Die revidierte VU. vom 31. Januar 1850 wich 
von diesem System einer reinen Wahlkammer, welche ohne jedes aristokratische Gepräge wesent- 
lich als besondere Vertretung der wohlhabenden Mittelklassen gedacht war, bereits erheblich ab 
und lenkte, unter Aufnahme geburtsaristokratischer Elemente und auf Lebenszeit von der Krone 
ernannter Mitglieder, in das Prinzip der partiellen Wahlkammer ein. Die Einzel- 
heiten dieser Formation (königliche Prinzen, Häupter der standesherrlichen Familien, von der 
Krone erblich und auf Lebenszeit Berufene, 90 von den Hoöchstbesteuerten und 30 von den Ge- 
meinderäten der größeren Städte gewählte Mitglieder) können hier unerwähnt bleiben, da die
	        
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