Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

142 G. Anschütz, 
hierauf bezüglichen Art. 665—68 der VU. vom 31. Januar 1850 niemals in Geltung getreten, sondern, 
von Anfang an fuspendiert, alsbald durch die weitere Entwicklung überholt und außer Kraft gesetzt 
worden sind. Letzteres geschah durch das Gesetz vom 7. Mai 1853, welches die Bildung der Ersten 
Kammer königlicher Anordnung überließ, mit der Direktive, daß unter Ausschluß ge- 
wählter Mitglieder die Kammer lediglich aus solchen bestehen solle, welche durch den 
König mit erblicher Berechtigung oder auf Lebenszeit berufen werden — und mit der Maßgabe, 
daß die hiernach zu erlassende königliche Verordnung nur durch ein Gesetz (also mit Zustimmung 
des Landtags) solle abgeändert werden dürfen. Auf Grund dieser Ermächtigung erging die könig- 
liche Verordnung wegen Bildung der Ersten Kammer vom 12. Oktover 1854 (GS. 541). Nach 
ihr setzt sich die — durch das Gesetz vom 30. Mai 1855 „„ erenhaus“ genannte — Erste 
Kammer zusammen aus: 1. den großjährigen Prinzen des königlichen Hauses, soweit der König 
sie beruft; 2. den von der Krone mit erblicher Berechtigung Berufenen: Häupter des 
fürstlichen Hauses Hohenzollern, der standesherrlichen sowie derjenigen Häuser, welche in der 
Herrenkurie des Vereinigten Landtags von 1847 Sitz und Stimme hatten, endlich die Vertreter 
der Familien, denen eine erbliche Stimme in der Ersten Kammer vom König besonders verliehen 
wird; 3. den von der Krone auf Lebenszeit berufenen Mitgliedern, nämlich: a) auf Präsen- 
tation Berufene. Präsentationsberechtigt sind: 3) die zur Herrenkurie des Vereinigten Landtags 
von 1847 berufen gewesenen Stifter; 4) provinzielle Adels- und Grundbesitzerverbände: Grafen- 
verbände, Verbände der mit ausgebreitetem Familienbesitz ausgezeichneten Geschlechter, denen 
das Präsentationsrecht besonders verliehen ist, Verbände des alten und des befestigten Grund- 
besitzes; y) die Landesuniversitäten; 3) die vom König mit dem Präsentationsrecht beliehenen 
größeren Städte; b) die Inhaber der vier großen Landesämter im Königreich Preußen; c) Per- 
sonen, welche von der Krone aus besonderem Vertrauen in freier Auswahl zu Mitgliedern des 
Herrenhauses ernannt werden (Zahl nicht begrenzt; s. oben). 
II. Die Zweite Kammer (in Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen so, in Preußen 
und Bayern „Haus der Abgeordneten“! bzw. „Kammer der Abgeordneten“ genannt) soll nach 
dem politischen Sinn des Zweikammersystems eine reine Wahlkammes sein, eine Ver- 
sammlung also, deren Mitglieder ausschließlich durch Wahlen der Bevölkerung hervorgehen. 
Sie entspricht diesem Normaltypus auch überall. Die Gestaltung des Wahlrechts zur Zweiten 
Kammer bewirkt gegenwärtig überall eine homogene Struktur dieser Kammer: eine Versamm- 
lung, welche sich nicht aus Gruppen von Abgeordneten einzelner Stände und Klassen, sonderm 
in Wahrheit aus „Vertretern des ganzen Volkes“ zusammensetzt, ein Abbild der modernen 
bürgerlichen Gesellschaft mit bewußter Außerachtlassung ihrer berufsständischen und insbesondere 
der etwa noch in Resten vorhandenen geburtsständischen Gliederung. 
Dem Charakter einer rein numerischen Vertretung des Staatsbürgertums entsprechend, 
erfolgt die Wahl der Abgeordneten zur Zweiten Kammer überall in territorial abgegrenzten 
Wahlkreisen (Wahlbezirken), deren Zahl und Grenzen jetzt überall gesetzlich festgelegt 
sind, also im Verordnungswege nicht geändert werden können. Durchweg durch (Verfassungs- 
oder einfache) Gesetze geregelt sind fermer folgende Punkte: die Gesamtzahl der Abgeordneten, 
die Voraussetzungen des aktiven und des passiven Wahlrechts (Wahlfähigkeit und Wählbarkeit), 
die grundsätzliche Gestaltung des Wahlverfahrens. Wichtig und charakteristisch für das politische 
Gesamtbild der deutschen Zweiten Kammern sind insbesondere die Normen über Wahlfähigkeit, 
Wählbarkeit und Wahlverfahren. Sie sind, im Zusammenhalt der wesentlichsten Uberein- 
stimmungen und Verschiedenheiten, in den Staaten mit Zweikammersystem folgende: 
Das Reichstagswahlrecht (oben § 22) mit seinen vier Merkmalen: Allgemeinheit des Wahl- 
rechts, Gleichheit desselben, direkte Wahl, geheime Abstimmung, ist für die Landtage der Einzel- 
staaten keineswegs überall — so vor allem nicht in Preußen — und, soweit überhaupt, nur zögernd 
angenommen worden. Zuerst wurde es, für den Hauptteil der damaligen „Kammer der Ab- 
geordneten“ (die 70 Abgeordneten der Städte und Oberamtsbezirke) in Württemberg ein- 
geführt (1868), wo es dann durch die Verfassungsreform vom 16. Juli 1906 auf sämtliche Mandate 
er Zweiten Kammer ausgedehnt worden ist, die Formation dieser Kammer also ausschließlich 
beherrscht. Das gleiche gilt seit dem Gesetz vom 24. August 1904 für Baden. In diesen beiden 
Suern L also allgemeines, gleiches, direktes und geheimes (durch Stimmzettel auszuübendes) 
Dirert und geheim ist das Wahlrecht ferner in Bayern, Sachsen, Hessen , in allen drei Staaten 
jedoch nicht völlig „allgemein“, indem diejenigen, welche keine direkte Steuer zahlen, von der Wahl- 
  
1 Die Bezeichnung der preußischen Zweiten Kammer als „Haus der Abgeordneten“ ist durch 
das oben im Text erwähnte Gesetz vom 30. Mai 1855 erfolgt. 
: Geltendes Recht: Bayern: Landtagswahlgesetz, vom 9. April 1908; Sachsen: Wahlgesetz 
für die Zweite Kammer der Ständeversammlung, vom 5. Mai 1909; Hessen: Gesetz, die Land- 
stände betreffend, vom 3. Juni 1911.
	        
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