Deutsches Staatsrecht. 143
berechtigung ausgeschlossen sind. In Bayern gilt, wie in Würtremberg und Baden, der Grund-
sat des gleichen Wahlrechts. Anders in Hessen und namentlich in Sachsen. Beide Länder stufen
das aktive Wahlrecht nach gewissen Eigenschaften und Merkmalen des Wahlberechtigten ab, und
war nach dem System des Mehrstimmenrechts (Pluralsystem). In Hessen ist das System nur
schwach ausgebildet (zwei Stimmen für jeden Wähler, der das 50. Lebensjahr zurückgelegt hat)
Viel stärker in Sachsen. Dort kann die Zahl der „Zusatzstimmen“ für den einzelnen Wähler bis
auf drei steigen, der Wähler also, je nach seiner Qualifikation, ein, zwei, drei oder (höchstens) vier
Stimmen haben. Die gesetzlichen Voraussetzungen des Rechts auf die Zusatzstimmen sind: Ein-
kommen von bestimmter Höhe, Grundbesitz (insbesonderer landwirtschaftlicher) von gewissem Um-
sang ziernichasiche Bildung, Lebensalter (vgl. das Nähere bei O. Mayer, Sächs. Staatsr.
S. 130 ff.).
In Preußen ist das Wahlrecht zur Zweiten Kammer ursprünglich — oktroyierte V Urk,
vom 5. Dezember 1848, Wahlgesetz für die Zweite Kammer vom 6. Dezember 1848 — allgemein.
gleich, geheim und indirekt gewesen. Indirekt ist es auch jetzt noch, auch allgemein — denn die
eute maßgebende Norm — Koönigliche Verordnung (eine vom Landtag nachträglich gugeheißene
tverordnung) über die Ausführung der Wahl der Abgeordneten zur Zweiten Kammer vom
30. Mai 1849 1 — hält an dem Institut der Wahlmänner fest und gewährt die Wahlberechtigung
jedem selbständigen (d. h. zivilrechtlich geschäftsfähigen), mindestens 24 Jahre alten, im Besitz der
bürgertichen Ehrenrechte befindlichen, keine Armenunterstützung empfangenden, am Wahlort seit
mindestens sechs Monaten wohnenden Preußen ohne Unterschied, ob er Steuern zahlt oder nicht —;
aber weder gleich noch geheim: es stuft das Stimmgewicht des Wählers nach seiner Steuerleistung
ab und läßt die Wahlen durch öffentliche Abgabe der Stimmen vollziehen. Die wesentlichen Einzel-
heiten dieses preußischen „Dreiklassenwahlrechts“ sind folgende. In jedem „Urwahlbezirk“ (Mindest-
größe: 750, Höchstgröße: 1749 Einwohner) werden die wahlberechtigten Personen nach Maßgabe
der auf sie veranlagten direkten Staats- und Kommunalsteuern in drei Abteilungen geteilt, so daß
auf jede Abteilung ein Drittel der Gesamtsteuersumme des Urwahlbezirkes entfällt: die erste Ab-
teilung besteht aus den Höchstbesteuerten, welche das erste Drittel, die zweite aus den Mittel-
besteuerten, welche das zweite Drittel, die dritte aus den Mindestbesteuerten, welche das letzte Drittel
der Steuern aufbringen. Zur dritten Abteilung gehören auch diejenigen, welche mangels aus-
reichenden Besitzes oder Einkommens keine direkten Steuern zahlen. Für jeden nicht zur Staats-
einkommensteuer veranlagten Wähler ist ein fingierter Steuerbetrag von 3 Mk. anzusetzen. In
den Urwahlbezirken werden die Wahlmänner gewählt: je einer auf 250 Einwohner, also z. B. bei
1500 Einwohnern sechs. Jede der drei Wählerabteilungen wählt ein Drittel der Wahlmänner.
Es liegt in der Natur der Sache und in der Absicht des Systems, daß die beiden ersten Abteilungen,
selbst zusammengenommen, eine nur dünne, wenig zahlreiche Oberschicht der wahlberechtigten
Bevölkerung bilden und die überwiegende Mehrzahl der letzteren zur dritten Abteilung gehört,
so daß also das Übergewicht der Reichen und Wohlhabenden über die minder Begüterten und Besitz-
losen ein unverhältnismäßig großes ist?. Die Wahlmänner wählen die Abgeordneten. Die Stimm-
abgabe geschieht sowohl bei den Wahlmänner-(Ur-) wie bei den Abgeordnetenwahlen durch öffentlich-
mündliche Abstimmung zu Protokoll des Wahlvorstandes, und zwar regelmäßig in Form der „Termin-
wahl“ (Abstimmung in gemeinschaftlicher Versammlung der Wähler): nur für größere Bezirke ist
„Fristwahl“ (Stimmabgabe während einer nach Anfangs= und Endtermin festzusetzenden Frist)
vorgeschrieben bzw. kann sie durch den Minister des Innern vorgeschrieben werden.
Wöäblbar sind in den meisten Staaten nicht alle Wahlberechtigten, sondern nur die, welche
noch besonderen Erfordernissen genügen: in der Regel wird ein höheres Lebensalter (Preußen,
Sachsen, Baden: das 30. Jahr) und der Besitz der Staatsangehörigkeit seit einer bestimmten Zeit
(meist seit einem Jahre, Sachsen seit drei Jahren) verlangt.
§ 34. Zuständigkeit des Landtags ?.
Es ist üblich, die Gesamtzuständigkeit eines Parlaments zu gliedem in die beiden Haupt-
gmppen der kollegialen und der politischen „Rechte“. Hiergegen ist nur zu erinnemm,
daß es sich um „Rechte“, d. h. subjektive Rechte, weder bei der einen noch bei der anderen Gruppe
handeln kann, da der Landtag nicht rechtsfähig, keine Person ist (s. oben § 32). Es liegen also
nicht „Rechte“, sondem Kompetenzen vor. Davon abgesehen ist der Sinn der Unterschei-
dung folgender: die kollegialen Kompetenzen verhalten sich zu den politischen wie das Mittel
1 Sie ist in Einzelpunkten, ohne Antastung des politischen Grundprinzips, abgeändert worden
insbesondere durch die Gesetze, betr. Anderung des Wahlverfahrens, vom 24. Juni 1891 und 29. Juni
1893 sowie die beiden Gesetze vom 28. Juni 1906 (GS. 313, 318).
* Im Jahre 1908 umfaßte im ganzen Staatsgebiete die erste Abteilung 3,8 0% die zweite
13,9 c% die dritte 82,3 0% der Bählenschckt. In sehr vielen Urwahlbezirken sinkt aber die Stärke
der ### unter 1 %, die der zweiten unter 3 %% herab und steigt demgemäß die dritte auf mehr
8 98 96.
* Vgl. die zu §s 32 angeführte Literatur.