Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

146 G. Anschütz. 
Reichstag — ist folgendes zu bemerken. Die Landtage sind, wie der Reichstag, periodisch tagende 
Versammlungen. Die Hauptabschnitte ihrer Tätigkeit heißen Legislaturperioden, 
innerhalb deren diese Tätigkeit sich in Sitzungsperioden (Cessionen) gliedert. Die 
Legislaturperiode (Zeit, auf welche die Abgeordneten gewählt sind) beginnt, wofem nicht die 
Verfassung ausdrücklich ein anderes bestimmt, mit dem Tage der Wahl (Abgeordneten-, nicht 
Urwahl). Sie erreicht ihr Ende durch Zeitablauf (sechsjährige Legislaturperioden in Bayern, 
Württemberg, Sachsen, Hessen, fünfjährige in Preußen, vierjährige in Baden, dreijährige in 
einigen Kleinstaaten) oder durch Auflösung des Landtags bezw. der Zweiten Kammer. Die 
Auflösung — stets Prärogative der Krone — bewirkt überall die Vornahme allgemeiner Neuwaylen 
(Integralemenerung), während diese Rechtsfolge auch nach Beendigung der Legislaturperiode 
durch Zeitablauf in Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, nicht dagegen in Hessen 
eintritt (hier System der Partialermeuerung: es erlischt jedesmal nur ein Teil der Mandate und 
wird durch Neuwahlen ergänzt). Die Legislaturperiode zerfällt in Sitzungsperioden oder Sessionen. 
Die Sitzungsperiode beginnt mit der Berufung des Landtags durch den Monarchen (Selbst- 
versammlungsrecht nur ganz ausnahmsweise in einigen Kleinstaaten, im übrigen nicht anerkannt), 
sie endigt mit der Schließung und kann, ohne daß die Kontinuität der Geschäftsbehandlung ge- 
stört wird, tatsächlich unterbrochen werden durch Vertagung des Landtages. Schließung 
und Vertagung sind, wie die Berufung, Kronprärogativen; das Recht der Berufung und Ver- 
tagung erleidet bisweilen eine verfassungsmäßige Beschränkung, wie z. B. in Preußen, wo die 
Berufung alljährlich in der Zeit von Anfang November bis Mitte Januar und nach Auflösung 
des Hauses der Abgeordneten binnen 90 Tagen nach dem Erlaß der Auflösungsverfügung er- 
solgen muß, aber die Vertagung ohne Zustimmung des Landtages die Frist von 30 Tagen 
nicht übersteigen, auch ohne diese Zustimmung in derselben Session nicht wiederholt werden 
darf: VU. Art. 76 (in der Fassung des G. vom 18. Mai 1857) und 52. 
Die Rechtsstellung der einzelnen Landtagsmitglieder ist vor allem gekennzeichnet durch 
die Unabhängigkeit der Ausübung des parlamentarischen Berufs. Diese Unabhängigkeit ist durch 
die Verfassung nach zwei Seiten hin gewährleistet. Einmal gegenüber den Wählern und allen 
sonstigen Faktoren, auf deren Willen die Landtagsmitgliedschaft der Betreffenden beruhte. Typisch 
und vorbildlich für die RV. (s. oben §9 22, S. 109) ist der Grundsatz, daß die Volksvertreter 
rechtlich niemandes Vertreter sind, daß zwischen Wählern und Abgeordneten so wenig wie zwischen 
der Krone und den von ihr emannten Mitgliedemi der Ersten Kammer ein irgendwie geartetes 
Rechtsband und Verantwortlichkeitsverhältnis besteht, vor allem in der preuß. Vl. Art. 83 
zum Ausdruck gebracht worden (s. oben § 32 S. 139). Sodann ist jene Unabhängigkeit garan- 
tiert gegenüber jeder Reaktion der Staatsgewalt außerhalb des Landtags und seiner den Be- 
stimmungen der Geschäftsordnung gemäß zu handhabenden Hausdisziplin; diese Garantie, also 
dos Prinzip der absoluten Rede- und Abstimmungsfreiheit, ist durch das Reichsrecht, Str#B. 
§ 11 ausgesprochen und damit den Mitgliedern aller deutschen Landtage die Immunität ihrer 
Berufstätigkeit in demselben Maße gewährt worden wie den Mitgliedern des Reichstags (s. oben 
S. 109). Was weiterhin die gerichtliche Verfolgung von Landtagsmitgliedern wegen solcher 
Handlungen betrifft, welche außer ursächlichem Zusammenhang mit dem parlamentarischen 
Beruf stehen, so ist zunächst die Verhängung oder Fortsetzung einer Haft im zivilprozes- 
sualem Zwangsvollstreckungsverfahren gegen ein Landtagsmitglied während 
der Sitzungsperiode ohne oder wider Willen der betr. Kammer durch 8PO. 8§ 904, 905 allgemein 
für unzulässig erklärt, während in bezug auf strafgerichtliche Verfolgung, insbesondere Ver- 
haftung der Landtagsmitglieder bei währender Session das Reichsrecht sich positiver Vorschriften. 
enthält jedoch — Einf G. zur Str PO. § 6 Nr. 1 — nach dieser Richtung hin einen umfassenden 
Vorbehalt eröffnet. Auf Grund der letzteren sind die für das Recht der Reichstagsabgeordneten 
— RV. Art. 31 (s. oben S. 109) — vorbildlichen Normen der preuß. Vl. (Art. 84) und die 
ihnen entsprechenden Vorschriften anderer Landesgesetze (z. B. württ. G. vom 23. Juni 1874) 
ebenso aufrechterhalten geblieben wie die einschlägigen Verfassungsbestimmungen Bayemms, 
Sachsens, Badens und anderer Staaten, welche, in der Privilegierung der Parlamentarier 
minder weitgehend wie das Reichs-, preußische und württembergische Recht, nicht jeden Straf- 
verfolgungsakt, sondern nur die Verhängung der Untersuchungshaft (ausgenommen bei Ver- 
brechern in flagranti) an die Genehmigung des Landtags knüpfen.
	        
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