152 G. Anschütz.
Gewalt. Die hierin liegende Begriffsstimmung sieht von der Erscheinungsform der Rechts-
sätze ebenso ab wie von ihrem Ursprung, von der Art und Weise ihrer Entstehung. Insbesondere
bleiben die Beziehungen der „Gesetze“ in diesem Sinne zu Staat und Staatsgewalt dahingestellt;
es bleibt als begriffsunerheblich beiseite, ob die Gewalt, Gesetze zu geben, dem Staat zusteht oder
ihm allein zusteht, und durch welche Organe diese Zuständigkeit ausgeübt wird. Es ist im Lichte
dieser Anschauung für den Begriff des Gesetzes erforderlich und ausreichend das Merkmal der
Rechtsnorm: das Dasein einer die Willensmacht mehrerer willensfähiger Wesen (Personen)
gegenseitig abgrenzender Zwangsvorschrift genügt und verpflichtet, um von einem „Gesetz“ zu
sprechen. Gesetz und Recht (in dem angegebenen Sinne) sind hiemach Wechselbegriffe, und es ist
deutlich, daß in dieser Begriffsbestimmung nicht eigentlich die besondere st aat srechtliche Betrach-
tungsweise, sondem die der allgemeinen Rechtslehre zur Geltung kommt. Der Begriff des Gesetzes
i. mat. S. ist erhaben über den Wandel der Staatsformen und Staatsverfassungen, wie er unab-
hängig ist von dem Wechsel der Anschauungen über das Verhältnis von Staat und Recht. Eben-
daher ist denn auch die Gleichung Gesetz = Rechtssatz alten und neueren Zeiten geläufig. Man
beachte die Sprechweise der Römer (vielfache Gleichsetzung von ex und „#us“; 1. 7D 1, 3: „legis
Virtus haec est imperare: vetare permittere punire“, diese vier Zeitwörter kennzeichnen erschöpfend
das Wesen rechtssatzmäßiger Normierung), wie die der altdeutschen Rechtsquellen („lex“ ist das
Recht, wonach das Volk lebt); man denke an die in neueren und neuesten Kodifikationen, im
preußischen allgemeinen Landrecht (vgl. Entsch. des preuß. Obewerwaltungs--Gerichts Bd. 16
S. 54) wie in den Reichsjustizgesetzen (vgl. Einf. Gesetze z. BG. Art. 2, ZPO. Art. 12, Str PO.
Art. 7, Konk O. Art. 2) folgerichtig durchgeführte Identifizierung von „Gesetz“ und „jeder Rechts-
norm“; — man erwäge endlich, daß auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch die Ausdrücke
Gesetz und Rechtssatz abwechselnd verwendet (z. B. Lehre von der rückwirkenden Kraft oder der
Kollision der „Gesetze“, d. h. der „Rechtsnormen"), und man wird die Überzeugung gewinnen,
daß der Begriff des Gesetzes im materiellen Sinne mehr ist als ein bloßes Phantasiegebilde
modemer Rechtsdogmatik.
II. Die konstitutionelle Gewalteinteilung hat nun diesem materiellem Gesetzbegriff, ohne
ihn zu verdrängen oder zu ersetzen, einen formellen Begriff an die Seite gestellt: Gesetz
gleich Aktder Legislative. Legislative aber ist das zur Schaffung von Gesetzen im mate-
riellem Sinne spezifisch, wenngleich nicht ausschließlich berufene Staatsorgan. Die Gedanken,
auf denen Dasein, Formation und Zuständigkeit dieses Staatsorgans, des „Gesetzgebers“ im kon-
stitutionellen Sinne, beruhen, sind folgende (vgl. hierher und zum Folgenden oben § 3 S. 27 ff.
und 87 S. 40 ff.). Das konstitutionelle System fordert Trennung der gesetzgebenden Gewalt nicht
nur von der richterlichen, sonderm auch von der vollziehenden Verwaltung („Regierung“ in diesem
Sinne). Der Vereinigung aller Gewalten in der Hand des absoluten Monarchen wird mit der
immer wiederkehrenden, mannigfach variierten Begründung, „daß eine Regierung, welche zu-
gleich Gesetze gibt, despotisch zu nennen ist“ (Kant), jenes neue Prinzip entgegengesetzt: das
Prinzip der Gewaltenteilung. Eine Opposition gegen den Absolutismus mit zunächst wissen-
schaftlich-literarischem, dann aber praktischem Erfalg loben 87): es gelang, die absolute Monarchie
nach dem Richtmaß der Gewaltenteilungslehre umzugestalten, den konstitutionellen, den
„Verfassungs“-Staat zur Wahrheit zu machen.
Jellinek, Gesetz und Verordnung (1887); v. Seydel, Bayer. Staatsr. 2 304 ff.; Rosin,
Polizeiverordnungsrecht (2. Aufl. 1895); Otto Mayer, Deutsches VerwaltR. 1 67 ff.; An-ä
schütz, Kritische Studien z. Lehre vom Rechtssatz und formellem Gesetz (1891); derselbe,
Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff d. gesetzgeb. Gewalt (2. Aufl. 1901); derselbe,
Art. „Gesetz" in Fleischmann-v. Stengels Wörterb.; Hubrich, Die reichsgericht-
liche Judikatur über den Gesetzes= und Verordnungsbegriff nach preuß. Staatsr., Ka# ths Annal.
1904, S. 770 ff., 801 ff., 911 ff.; derselbe, Das Reichsgericht über den Gesetzes= und Ver-
ordnungsbegriff nach Reichsrecht (1905). Diese Schriftsteller dürfen, unter sich in den wesent-
lichsten Punkten übereinstimmend, als Vertreter der herrschenden Meinung gelten. — Ut audiatur
et altera pars: v. Martitz, Über den konstitut. Begriff d. Gesetzes, in d. Ztschr. f. d. gesamte
Staatswiss. 936 (1880), 241 ff.; Zorn und Hirths Annal. 1885, 301 ff., und 1889, 344 ff.;
Haenel, Das Gesetz im formellen und materiellen Sinne (Studien z. Deutschen Staatsr. 2
1888); Arndt, Verordnungsrecht (1884), Reichsstaatsrecht (S. 156 ff.)) Kommentar zur preuß.
Verfassungsurkunde (7. Aufl. 1911), 242 ff.; Bornhak, Preuß. Staatsr. 1 503 ff. (2. Aufl.
1911).