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aktuell geltendes, positives Recht. Der Beweis hierfür ist, soweit er in Erwiderung abweichender
Lehrmeinungen noch erforderlich erschien, namentlich durch neuere Untersuchungen über Ent-
stehung und Bedeutung der einschlägigen Vorschriften der Landesverfassungen, für das preußische
Staatsrecht insbesonders von Anschütz, Gegenwärtige Theorien (oben, Literaturübersicht zu
diesem Paragraph), für das bayerische von v. Seydel, Bayer. Staatsr. II 316 ff. für das
sächsische ven O. Mayer, sächs. Staatsr. §§ 20, 22 erbracht worden.
Die älteren deutschen Verfassungen, namentlich die bayerische und badische (ebenso
die so lange unerfüllt gebliebene, die Einführung des konstitutionellen Systems verheißende
preußische Verordnung vom 22. Mai 1815, oben S. 45) bedienen sich zur Abgrenzung des
Vorbehaltsgebietes der Legislative der Formel, daß „Gesetze, welche die Freiheit der Personen
und das Eigentum der Staatsangehörigen betreffen“, nur mit Zustimmung der Volksvertretun
erlassen werden dürfen (bayer. Vi U. Tit. VIII, 5+ 2, bad. s 65). Der Sinn dieser Worte ist überab
der gleiche. Es soll nicht das Gebiet der Gesetzgebung zerlegt werden in ein dem Landesherrn
allein gehöriges und ein durch die Mitwirkung des Landtags eingeschränktes, sondern (vgl. hierfür
insbesondere v. Seydel a. a. O., Anschütz a. a. O. S. 168 ff.) das ganze Gebiet der
(im mat. S.) Gesetzgebung soll der konstitutionellen Legislative überwiesen werden. Die „Frei-
heit und Eigentum“"-Formel schränkt den materiellen Gesetzesbegriff nur scheinbar ein, in Wahr-
heit definiert sie diesen Begriff, und zwar, wie zuzugestehen ist, in zutreffender und erschöpfender
Weise (vorausgesetzt, daß man sie so, wie sie gemeint ist, nämlich weit interpretiert). Denn es
ist die Eigenschaft iedes Gesetzes im materiellen Sinne, jeder Rechtsvorschrift, daß sie der persön-
lichen Freiheit im allgemeinen und dem Eigentum insonderheit Maß und Schranken setzt: „####
Rechtsvorschrift betrifft die Freiheit der Personen oder das Eigentum“ (v. Seydel). Die Grenz-
linie, welche jene Formel zieht, trennt nicht gewisse Rechtsnormen von gewissen anderen, sondern.
alle Normen, welche Rechts normen sind, von den anderen, die es nicht sind. Es wird unter-
schieden zwischen solchen Vorschriften, in denen der Staat sich an die Untertanen wendet, um unter
ihnen (Privatrecht) oder zwischen sich und ihnen (öffentliches Recht) die Grenzen des Dürfens und
Müssens festzusetzen (Rechtsvorschriften), und solchen, mittels deren er, ohne in den
Rechtsstand der Regierten einzugreifen, lediglich die Einrichtungen und das Verfahren des Re-
gierens ordnet (Verwaltungsvorschriften). Der Erlaß von Vorschriften der ersteren
Kategorie bleibt der gesetzgebenden Gewalt im formellen Sinne vorbehalten, der der anderen
Art der vollziehenden Gewalt überlassen, wobei indes die Legislative den Vorrang hat (s. oben),
so zwar, daß es ihr überall nicht verwehrt ist, auch solche Normen, welche, als Verwaltungs-
vorschriften, von der Exekutive hätten erlassen werden dürfen, mit bindender Kraft für letztere
durch einen legislativen Akt, ein Gesetz im formalen Sinne zu erlassen, während umgekehrt die
Exekutive niemals in den Vorbehalt der Legislative eingreifen, Gesetze im materiellen Sinne also
nicht anders als mit formellgesetzlicher Ermächtigung geben darf.
Die später (nach 1818) entstandenen deutschen Verfassungen lassen die Formel „Freiheit
und Eigentum" meistens weg; man darf sagen: deshalb, weil sie überflüssig erschien. Man be-
gnügt sich, den Satz verfassungsmäßig festzulegen, daß ohne Zustimmung der Stände „kein
Gesetz gegeben“" werden darf (württemb. V U. § 88, sächs. § 86). Dies erscheint ausreichend,
um das zu sagen, was gesagt werden will, nämlich einmal: ein „Gesetz“ im neuen formellen, kon-
stitutionellen Sinne kommt zustande als gemeinsamer Willensakt von Krone und Landtag, und
sodann: dieser Weg ist notwendig zum Erlaß aller Normen, welche vorlängst schon „Gesetze“ waren
und Gesetze hießen, d. h. aller Rechtsnormen.
Auf der gleichen Annahme der Entbehrlichkeit der „Freiheit und Eigentum“-Formel beruht
auch die preußische Verfassung. Die durch die Verordnung vom 22. Mai 1815 verheißene
„Landesrepräsentation“ trat (wie oben S. 45 erzählt) nicht ins Leben; vielmehr kam es vor-
erst nur zur Einsetzung von Provinzialständen (Ges. v. 5. Mai 1823), deren (nur beratende, nicht
beschließende) Mitwirkung bei der allgemeinen Gesetzgebung nach jener Formel abgegrenzt war,
ebenso, wie dann die legislative Kompetenz des durch Patent vom 3. Februar 1847 (oben S. 45, 46)
eschaffenen „Vereinigten Landtags“. Nachdem dieses Scheinparlament die konstitutionellen
Forderungen des Landes unbefriedigt gelassen hatte, erging, unverzügliche Erfüllung derselben
versprechend, die königliche Verordnung vom 6. April 1848 über einige Grundlagen der preußischen
Verfassung. Diese Verordnung proklamiert (§ 6): „den künftigen Vertretern des Volkes soll jeden-
die Zustimmung zu allen Gesetzen zustehen.“ Zu allen „Gesetzen“! Ein mate-
rieller Gesetzesbegriff irgendwelcher Art mußte hier vorschweben, denn die Verfassungsurkunde
und ihr formeller Gesetzesbegciff waren ja noch nicht da. Welcher Begriff aber ist in der Verfassung
vom 6. April 1848 angenommen? Der der allgemeinen Rechtslehre oder des preuß. Allg. Land-
rechts (loben S. 152, dazu Anschütz a. a. O. S. 124 ff., 163 ff.), oder derjenige, welchen andere
deutsche Verfassungen teils mit der Formel „Freiheit und Eigentum" definieren, teils als bekannt
voraussetzen? Die nähere Untersuchung erübrigt sich, da alle diese Begriffe auf ein und dasselbe
hinauskommen: auf die Gleichung Gesetz = Rechtssatz. Der 62. Artikel der preußi-
schen Verfassung (Wortlaut oben S. 153) hat das Versprechen vom 6. April 1848 erfüllt: er über-
Wegen des Reichsrechts (Laband) vgl. unten S. 155.