Deutsches Staatsrecht. 155
trägt die „gesetzgebende", d.h. dierechtsetzende Gewaltdemverfassungs-
mäßig geordneten Zusammenwirken des Königs und der Kammern.
Die Reichsverfassung weicht von den vorstehend dargelegten gemeingültigen Grundsätzen
des Landesstaatsrechts nicht ab. Auch sie ist in ihrer einschlagenden Bestimmung, Art. 5 Abs. 1
(„die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Bundesrat und den Reichstag"), dahin zu ver-
stehen, daß die Gesetzgebung als materielle Gesetzgebung, als die rechtssetzende Gewalt in
ihrer Gesamtheit der Legislative zugewiesen und vorbehalten ist (so die herrschende Meinung, val.
Kobn, 5 #58, S. 89 ff.; Meyer-Anschütz 5 165 Anm. 10; v. Seydel, Komm. z.
III. Das Verhältnis der beiden Begriffe des Gesetzes (oben I. und II.,)) zueinander ist nicht
das der Identität. Denn es gibt, wie die Beispiele des Gewohnheitsrechts, der Rechtsverordnung
s. unten § 42), oder statutarischen Satzung und andere beweisen, Rechtsnormen, also Gesetze im
materiellem Sinne, welche nicht zugleich formelle Gesetze sind. Das Verhältnis ist auch nicht
das eines weiteren Begriffes zu dem von ihm eingeschlossenen engeren, wobei der materielle
Begriff als der weitere zu denken und von den Gesetzen im formellen Sinne zu behaupten wäre,
daß sie stets auch Gesetze im materiellen Sinne sind, immer Rechtsnormen enthalten. Diese Mei-
nung ist aufgestellt worden (v. Martitz, Zorn, bes. Haenel;s. oben S. 152 Anm.), jedoch
mit Unrecht. Das konstitutionelle Gesetz ist eine Form der Staatswillensäußerung, welche, wenn-
gleich auf die Rechtssetzung vornehmlich zugeschnitten, doch auch für andere Zwecke geeignet und
anwendbar ist. Daß der Gesetzgeber (also z. B. Bundesrat, Reichstag und Kaiser in dem durch
RV. Art. 5, 7, 17 geordneten Zusammenwirken) in die seinen Kundgebungen eigne Form auch
etwas anderes als Rechtssätze einkleiden darf, verbietet ihm weder ein Natur- oder Vernunftgesetz
noch ein Verfassungssatz. Im Gewande des formellen Gesetzes können beispielsweise erscheinen
Aussprüche, die nicht nur keine Rechtsnormen, sondern überhaupt keine Normen sind (Gesetze ohne
normativen Inhalt, z. B. Eingangsworte und Art. 35 Abs. 2 Satz 2 d. RV.: „Die Bundesstaaten
werden ihr Bestreben darauf richten ...“ weitere Beispiele bei Jellinek, Ges. und Verordn.
S. 232), Urteilssprüche (RV. Art. 76 Abs. 2°), Verwaltungsvorschriften und andere Verwaltungs-
akte. Für gewisse wichtige Verwaltungsakte (also Rechts geschäfte, nicht Normen des
öffentlichen Rechts) wird die Gesetzesform sogar durch die Verfassungen erfordert:o vor
allem für den zentralen Verwaltungsakt der Finanzwirtschaft, den Staatshaushalts-
etat (das Bud gehe durch RV. Art. 69, preuß. Vl. Art. 99 (s. unten § 47), für die Aufnahmen
von Anleihen und Ubernahme von Garantien (RV. Art. 73, preuß. Vl. Art. 103), die Verleihung
der Rechtsfähigkeit an Religions- und Geistliche Gesellschaften (EB##B. Art. 84, preuß. Vl.
Art. 13), die Erteilung von Eisenbahnkonzessionen (RV. Art. 41 Abs. 1). Überall stehen in Frage
sog. rein formelle Gesetze (legislative Willensäußerungen, welche etwas anderes als
Gesetze im materiellen Sinne zum Inhalt haben), eine Erscheinung, welche somit nicht nur denk-
dar, sondern dagewesen ist und in gewissen Fällen mit verfassungsmäßiger Notwendigkeit eintritt.
— Nach alledem verhalten die beiden Gesetzesbegriffe sich zueinander nicht wie zwei sich deckende,
auch nicht wie zwei konzentrische, an Größe verschiedene, sondern wie zwei sich schneidende Kreise:
was dem Bereiche des einen angehört, kann, muß abernichtauch in den des anderen fallen.
Es gibt Gesetze, welche dieses sind und so heißen der Sache wie der Form nach; es gibt aber auch
solche, welche es nur der Sache, und endlich solche, welche es nur der Form nach sind. Die Relation
Verordnung (s. unten § 42) abgrenzt, läßt sich dahin zusammenfassen: Jedes Gesetz im
materiellen Sinne muß zugleich ein solches im formellen Sinne
sein, es sei denn, daß durch ein formelles Gesetz (Verfassung oder ein-
faches Gesetz eine andere Form, insbesondere der Verordnungs-
weg, zugelassen ist. —
Die folgenden Erörterungen verwenden das Wort „Gesetz“, soweit nicht das Gegenteil her-
vorgehoben, überall in dem formellen Sinne des Wortes.
1 Oben S. 65.