12 G. Anschütz.
III. Entstehung und Untergang des Staates. — Die Frage nach der Entstehung
des Staates stand früher weit mehr im Vordergrunde des staatsrechtlichen und politischen
Denkens als heute; sie ist in den Hintergrund getreten durch den Wandel der Anschauungen
über das Verhältnis des Staates zum Recht. Die Jahrhunderte seit dem Mittelalter her bis
an die Schwelle des 19. Jahrhunderts bekennen sich ganz überwiegend zum Naturrecht; sie sind
beherrscht von dem Glauben an eine Rechtsordnung, die, ob man sie nun (in der theologischen
Färbung der Naturrechtslehre) auf göttliche Satzung und Offenbarung oder (nach Art der
rationalistischen Schule) auf ein ewig unwandelbares Vernunftgebot, auf die „vis rationis
naturalis“ zurückführte, jedenfalls eine außer- und überstaatliche, für menschliche Ver-
bandsgewalt unangreifbare Machtstellung besitzen sollte. Weit entfernt, das Recht als
Staatsprodukt zu erfassen, dachte man sich im Gegenteil den Staat als Rechtsprodukt; es war
der Naturrechtslehre „ein unabweisliches Bedürfnis, den Staat auf das Recht zu gründen und
deshalb seine Entstehung als einen rechtlichen Vorgang zu konstruieren, während ihr die Vor-
stellung, daß auch eine illegitime Staatsgewalt rechtliche Wirkungen zu erzeugen vermöge,
schlechthin unfaßlich war“ (Gierke, Althusius S. 265). Den staatsgründenden Vorgang selbst
konstruiert man — eine Idee, welche „auf Jahrhunderte hinaus die Geister tyrannisch be-
herrschte“ (Gierke a. a. O. S. 76) — als Vertrag, ein Vertrag aller mit allem, ein Gesamtakt
sämtlicher Individuen einer vorstaatlichen Gesellschaft, die es gut und nützlich erfand, ihren
Zustand in einen staatlich geordneten zu verwandeln. Traumhafte, mythologische Vorstellungen
über Staat und Recht, welche eine reizvolle Aufgabe dogmengeschichtlicher Schilderung bilden,
dogmatisch aber heute längst entwertet sind.
Wer heute ohne spekulative Voreingenommenheit über die Entstehung des Staates nach-
denkt, wird zwei Seiten des Problems unterscheiden müssen: einmal die Frage, wann und wie
es zuerst auf Erden zur Entstehung von Staaten gekommen ist (primitive Staatsbildung,
Genesis des Staates als Art der Gattung Gemeinwesen), — und die andere: In welchen Tat-
sachen und Formen mag sich in derheutigen Staatenwelt die Bildung neuer Staaten voll-
ziehen? Sind diese Tatsachen, diese Formen Rechtstatsachen, Rechts formen und, be-
jahendenfalls, wie steht es mit ihrer juristischen Natur?
Die erste Frage, die nach der primitiven Staatsbildung, scheidet hier aus. Sie ist unter
keinen Umständen eine Rechtsfrage. Aufgabe der Kulturgeschichte und Völkerkunde ist es, zu
untersuchen, wann, wo und wie zuerst solche Volksverbände, die man mit einiger Berechtigung
Staaten nennen darf, aus älteren und einfacheren Gemeinwesen — Familien, weiteren genea-
logischen Verbänden, Horden, Stämmen — sich entwickelt haben. Für den Juristen ist da
nichts zu forschen und erst rechts nichts zu konstruieren.
Was sodann die Entstehung neuer Glieder der historischen und modernen Staatengesell-
schaft betrifft, so kann diese Entstehung im Einzelfalle ein Rechtsvorgang sein, muß es aber nicht
sein, — ein Satz, der durch einfaches Nachdenken gewonnen und durch die Erfahrung bestätigt
wird. Wie bei der primitiven Staatsbildung, so ist auch hier die Irrlehre des Naturrechts fern-
zuhalten, daß jede Staatsbildung im Wege Rechtens vor sich gegangen sein müsse. Die Ent-
stehung eines neuen Staates in dieser Welt bestehender Staaten ist zunächst keine Rechts-,
sondern eine Tat= und Machtfrage. Der Staat ist entstanden, sobald die drei begriffsnotwendigen
Elemente Volk, Gebiet, Gewalt beieinander sind, — also mit der unlösbar und dauernd
gewordenen Zusammenfassung eines seßhaften Volkes unter einer obersten Gewalt. Einzig
und allein auf die vollzogene Tatsache dieser Zusammenfassung kommt es an. Wie und woher
die drei Elemente des neuen Staatswesens beschafft worden sind, und ob es dabei überall
rechtlich und reinlich zuging, ist unerheblich; auch die durch nackten Bruch älteren Rechts über
geraubtes Land, unterjochtes Volk herrschende Staatsgewalt ist Staatsgewalt, solange sie
sich halten kann und hält. Eine Nichtigkeit von Staat und Staatsgewalt wegen „Illegitimität"
gibt es nicht. Anders und falsch jenes „Legitimitätsprinzip“ des Wiener Kongresses und der
Restaurationszeit, eine scheinheilige Rechtsgestalt, unter deren naturrechtlicher Gewandung
einseitigste dynastische Interessenpolitik deutlich genug herwvorblickt. Gegen diese Art von
Legitimismus v. Treitschke, Pol. 1 134, und besonders Bismarck, Gedanken und
Erinnerungen 1 176: „Für das Terrain, welches die heutigen deutschen Fürsten teils Kaiser
und Reich, teils ihren Mitständen, den Standesherren, teils ihren eigenen Landständen ab-