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2. Abgesehen von diesen selbstverständlichen Fällen kann die Gesetzgebungskompetenz des
Reichs nur durch besondere und ausdrückliche Verfassungsvorschriften zur Ausschließlichkeit erhoben
werden. Solche Verfassungsvorschriften sind: Art. 35 und 40 RV. (Gesetzgebung über das gesamte
Zollwesen, über die Besteuerung von Salz, Tabak, Branntwein, Bier und Zucker, über alle in
den Zollvereinsverträgen geordneten Materien), Art. 52 Abs. 2 und 3 (Rechtsverhältnisse der
besonderen Post- und Telegraphenanstalten Bayerns und Württembergs), Art. 61 (Militärgesetz-
gebung; s. hierüber unten §& 40).
In allen anderen, nicht unter die vorstehend zu 1 und 2 bezeichneten Gesichtspunkte fallenden
Angelegenheiten wird die „Landesgesetzgebung“ als Gegenstand eines rechtlichen Könnens der
Einzelstaaten nicht schon dadurch ausgeschaltet, daß das Reich eine ebenmäßige Kompetenz besitzt,
sondern nur und erst dadurch, daß das Reichvon dieser Kompetenz Gebrauch macht,
und zwar in der erkennbaren Absicht Gebrauch macht, die betreffende Materie erschöpfend zu
ordnen. Ob lletzteres zutrifft, ob der Reichsgesetzgeber seinen Gegenstand hat erschöpfend be-
handeln — „kodifizieren“ — wollen, ist eine Frage des einzelnen Falles. „Kodifikationen“ in
diesem Sinne sind namentlich die Gesetzbücher des Reiches über Privaät-, Straf- und Prozeßrecht:
das BGB., HGB., StrG., die Str PO., Z3PO., KonkO.; sie setzen in betreff ihrer Materien
nicht sowohl die Landesgesetze als die Kompetenz der Länder zur Gesetzgebung außer Kraft, soweit
nicht in ihrem Text oder in dem ihrer „Einführungsgesetze" (vgl. z. B. Einf G. z. BG., Art. 55 ff.,
z. StrG#. Art. 2) ein anderes bestimmt, d. h. ein ausdrücklicher Vorbehalt für die Landesgesetz-
gebung getroffen ist. Soweit das Reichsgesetz nicht erschöpfend sein will, bleibt die Kompetenz
der Landesgesetzgebung bestehen, können also die reichsrechtlichen Vorschriften durch landesrecht-
liche ergänzt, freilich aber nicht abgeändert werden.
Denn die Reichsgesetze gehen nach Art 2 RV. den Landesgesetzen vor. Der Sinn des Art. 2
ist der, daß nicht nur jeder formell-legislative Akt der Reichsgewalt, sondern überhaupt jede auf
deren (ausdrücklichen oder stillschweigenden) Willen zurückzuführende Rechtsnorm jeder Norm
des Landesrechts vorgeht. „Reichsrecht bricht Landesrecht", es sei denn, daß es
sich selbst ausnahmsweise in einzelnen Satzungen eine nur subsidiäre, dem Landesgesetz den Vor-
tritt lassende Geltung beilegt. Es „bricht“ also nicht nur das formelle Reichs= das formelle Landes-
gesetz, sondern auch die Reichsverordnung das formelle Landes-(einfache oder Verfassungs-)
Gesetz. Auch das Gewohnheitsrecht ist durch den Ausdruck „Gesetz" hier nicht ausgeschlossen,
sondern eingeschlossen; partikulares Gewohnheitsrecht kann niemals dem Reichsgesetze gegen-
über derogatorische Kraft äußern).
Der Verfassungssatz, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen, ist nicht gleichbe-
deutend mit dem Rechtssprichwort: lex posterior derogat priori, sondern besagt ein mehreres.
Er will nicht den Vorrang der späteren Entstehungszeit unter gleichwertigen Rechtsquellen,
sondern den Vorrang der Rechtsquelle „Reichsgesetz“ als solcher statuieren. Das Reichsgesetz
geht dem Landesgesetz nicht vor, weil und soweit es das spätere Gesetz, sondern, auch wenn es das
frühere, weil es das Reichsgesetz ist. Der Vorrang des Reichsgesetzes ist ein absoluter auch
insoweit, als er nicht abgeschwächt wird durch den Auslegungsgrundsatz über das Zurücktreten
der lex generalis vor der lex specialis. Auch diese Regel kann, wie die vorhin erwähnte von der
lex posterior, nur bei der Konkurrenz gleichwertiger Rechtsquellen zur Anwendung kommen,
das Reichsgesetz ist aber dem Landesgesetz nicht gleichwertig, sondern überlegen; es ist ihm gegen-
über der stärkere, höhere Wille.
Die Wirkung, daß das mit dem Reichsgesetz inhaltlich konkurrierende Landesrecht aufgehoben
wird und nicht neu entstehen kann, tritt durch den Erlaß des Reichsgesetzes von selbst, von Verfas-
sungs wegen (Art. 2 RV.) ein, ohne daß es einer ausdrücklichen Erklärung bedürfte. Die Außer-
kraftsetzung des Landesrechts trifft letzteres ohne Unterschied, ob es dem Reichsgesetz materiell
widerspricht oder mit ihm materiell übereinstimmt. Ein Landesgesetz, welches dem Reichsgesetz
zuwiderläuft, ist nichtig. Ein Zuwiderlaufen liegt nicht nur vor, wenn das Landesgesetz andere
Vorschriften aufstellt wie das Reichsgesetz, sondern auch dann, wenn es dessen Vorschriften wieder-
holt, sowie endlich dann, wenn es Vorschriften enthält, deren Erlaß durch die Landesgesetzgebung
das Reichsgesetz verboten hat (negative Direktive für die Landesgesetzgebung). Gleichfalls nichtig
und unverbindlich ist die Auslegung oder Erläuterung von Reichsgesetzen durch Landesgesetze.
Unter diesen Gesichtspunkten fallen namentlich auch Bestimmungen der Landes-Ausführungs-