Deutsches Staatsrecht. 169
städten kommen diese gerichtsherrlichen Rechte dem Senat, im Bereiche der eigenen und un-
mittelbaren Reichsjustiz dem Kaiser zu, vorbehaltlich der Mitwirkung des Bundesrats in den
gesetzlich besonders bezeichneten Fällen (Vorschlagsrecht des Bundesrates bei Emennung der
Präsidenten und Räte des Reichsgerichts, des Oberreichsanwalts und der Reichsanwälte). Jedoch
mangelt dieser „Gerichtsherrlichkeit“ des Kaisers die traditionelle-monarchische Signatur inso-
fern, als die Reichsjustiz nicht in seinem Namen, sondern „im Namen des Reichs“ ausgeübt
wird (s. hierüber oben S. 103, 104). Als ein besonderes und außerordentliches Mittel der Reichs-
aufsicht über die Justiz der Einzelstaaten erscheint das dem Bundesrate durch Art. 77 M.
übertragene Recht des Einschreitens gegen Justizverweigerungen.
III. Die Verwaltung.
§ 44. Begriff und Wesen 1.
Verwaltung (vollziehende Gewalt) ist, zunächst rein negativ ausgedrückt das weitumfassende
Stück Staatsgewalt, welches zurückbleibt, wenn man von dem Ganzen dieser Gewalt die Gesetz-
gebung und die Justiz hinwegdenkt. Also der Inbegriff aller Staatstätigkeiten, welche weder Recht-
setzung noch Rechtspflege in dem materiellen Zuständigkeitsbereich der Justiz darstellen. Der
gemeinsame Charakterzug der hiernach zur Verwaltung gehörenden Staatsfunktionen und damit
das Wesen der Verwaltung ergibt sich aus dem Gegensatze, welcher die Verwaltungstätigkeit von
den anderen beiden Grundfunktionen trennt. Der Gesetzgeber betätigt sich in der Aufstellung
abstrakter Normen. Staatliches Wollen, nicht Handeln ist das Wesen dieser Tätigkeit: freilich eine
Willensbildung höchster Ordnung: das Wollen des Herrschers, aber eben Wille nur, nicht Tat.
Demgegenüber ist das Verwalten durchaus auf das Konkrete gerichtet; die Verwaltung
erfaßt die individuelle Angelegenheit, den einzelnen Fall. Und sie erfaßt ihn handeln d. Ihr
Wesen ist zweckbewußte Tätigkeit, lebendige Aktion. Nicht etwa Aktion nur im Sinne von Exekution
ohne eigenen Willen, Ausführung der Befehle des Gesetzgebers; hierauf, und daß das Wesen der
Verwaltung mit der Vorstellung bloßen Gesetzesvollzuges keineswegs ausreichend und nur ganz
einseitig gewürdigt wäre, ist bereits in anderem Zusammenhange (s. oben S. 28, 29) hingewiesen.
Die Verwaltung ist nicht sowohl die „vollziehende“, als vielmehr diehandeln de Staatsgewalt,
welche in dem Gesetz weder die Ursache noch den Zweck, sondern die Schranke ihres Tätig-
werdens erblickt. Damit öffnet sich der Blick auf den Unterschied zwischen Verwaltung und Justiz.
„In der Justiz ist die Findung des Urteils der einzige Zweck, es soll Recht gesprochen werden,
einerlei, was daraus entstehen mag. In der Verwaltung dagegen handelt es sich darum, Nütz-
liches zu schaffen und Schädliches fernzuhalten, beides, ohne Recht zu verletzen.“ (v. Ernst-
hausen, Erinnerungen eines preußischen Beamten.) Einfach folgerichtige, in diesem Sinne
blinde Anwendung der Gesetzesregel auf den streitigen Einzelfall ist der Beruf des Richters,
sehende Beförderung des Gemeinwohls innerhalb der Grenzen des gesetzlichen Dürfens das
Amt der Verwaltung.
Beide Gegensätze, der zur Gesetzgebung wie der zur Justiz, sind freilich nur von spezifischer,
nicht von ganz ausschließlicher Art. Der Staat ist Leben und Wirklichkeit: Leben und Wirklichkeit
spotten auch hier der vollkommen restlosen Einordnung in abstrakte Begriffskategorien. Es darf
nicht verhehlt werden, daß, in Abweichung von jenen Normaltypen des Gesetzes und des Ver-
waltungsaktes, konkret gefaßte (Individual-)Gesetze, anderseits abstrakt formulierte Verwaltungs-
akte (Verwaltungsverordnungen; s. oben S. 161, 162) vorkommen. Und in außerordentlich zahl-
reichen Fällen erscheint die Verwaltungstätigkeit der Justiz ganz gleichartig: die den Verwaltungs-
behörden übertragene Rechtspflege in Streitsachen des öffentlichen Rechts gehört hierher, ins-
besondere soweit die Verwaltung für diese jurisdiktionelle Zwecke in eine gewisse „Justizförmig-
keit“ gebracht, den ordentlichen Gerichten nach Organisation und Prozedur angeähnlicht ist (Ver-
waltungsgerichtsbarkeit; (. d. verwaltungsrechtlichen Teil dieser Enzyklopädie).
Bgl. insbesondere Tit. VIII SKUbayer. Vl.: „Die Gerichtsbarkeit geht vom Könige aus.“
„ Literatur: Laband 2 Il72 ff.; Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht
1 1 ff.; Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts 1 ff.; Anschütz, Justiz
und Verwaltung, in der „Kultur der Gegenwart“ (2. Aufl. 1913).