176 G. Anschütz.
Bundes nichts anderes als die Summe der „bundesbeschlußmäßigen Kontingente“ der Einzel-
staaten.
Wie steht es nun im heutigen Reich? Die Frage ist leichter und — wie eindringende
Untersuchung lehrt — anders für die Seemacht des Reiches, die Kriegsmarine, als
für das Landheer zu beantworten.
II. Die Kriegsmarine. — Art. 53 Abs. 1 RV. bestimmt: „Die Kriegsmarine des Reichs
ist eine einheitliche unter dem Oberbefehl des Kaisers. Die Organisation und Zusammen-
setzung derselben liegt dem Kaiser ob, welcher die Offiziere und Beamten der Marine ernennt:
und für welchen dieselben nebst den Mannschaften eidlich in Pflicht zu nehmen sind.“ Hiermit
wollte gesagt sein und ist gesagt: es gibt nur eine deutsche Kriegsmarine, und diese ist eine
Reichsanstalt. Eine Reichsanstalt im vollen unitarischen Sinne. Dem Reich steht in Marine-
sachen nicht nur die „Gesetzgebung und Beaufsichtigung“ (Art. 4 Nr. 14 RV.), sondern die
Totalität aller Hoheitsrechte, Gesetzgebung wie Verwaltung, und die Gesetzgebung aus-
schließlich (s. oben S. 159) zu. Die gesamte Marineverwaltung im weiteren Sinne, um-
fassend die Kommandogewalt (diese dem Kaiser allein zustehend) und die Marine-
verwaltung im engeren Sinne (Kaiser, Reichskanzler, Reichsmarineamt; vgl. oben S. 114),
ist durchweg eigene und unmittelbare Reichsverwaltung. Der Marinedienst (Ofsfiziere, Be-
amten, Mannschaften) ist Reichsdienst (Art. 53 Abs. 1, 4). Partikulare Hoheitszeichen kennt
die Marine nicht, sondern nur die Bezeichnung „kaiserlich“ (RV. Art. 53 Abs. 4), die Flagge
(Art. 55) und die Kokarde des Reichs. Der gesamte sächliche Apparat, die Flotte, die Kriegs-
häfen (Art. 53 Abs. 2), Werften usw., gehört dem Reiche: der Marinefiskus ist Reichsfiskus.
Die Finanzierung der Marine ist Sache der Reichskasse (Art. 53 Abs. 3); der Marineetat ist ein
Teil des Reichshaushaltsetats; nur durch Reichsorgane wird er festgestellt 1 und vollzogen.
Zusammengefaßt: die deutsche Landesstaatsgewalt ist in dem Tätigkeitsgebiete der Kriegs-
marine schlechthin nicht mehr vorhanden; die Einzelstaaten haben weder das Recht auf eine
eigene Seemacht noch irgendeinen Anteil an der Verwaltung der Reichsmarine, welche letztere
in ihrer rechtlichen Ordnung und Organisation den oben angegebenen Kriegsverfassungstypus
in aller Reinheit verwirklicht. Zur See ist unsere bewaffnete Macht dieeines Einheits-
staates. —
III. Das Landheer. — Daß die staatsrechtliche Natur dieses anderen, größten und ge-
wichtigsten Teils der deutschen Streitmacht grundsätzlich keine andere sei als die der Marine,
ist eine in der Literatur weithin verbreitete Meinung. Schulze, G. Meyer, Zorn,
Arndt u. a. haben sich ihr angeschlossen; ihre Hauptvertreter sind Haenel und Brock-
haus. „Es gibt nur ein ungeteiltes deutsches Heer, und dieses ist ein Reichsinstitut“ (Brock-
haus, Das deutsche Heer S. 7, 214). „Die gesamte Militärverwaltung im vollen Wortsinne
ist eigene und unmittelbare Verwaltung des Reichs“ (Haenel, Staatsr. 1 531). In der
Verwaltungs- und Gerichtspraxis hat diese Ansicht bisher keinen Beifall gefunden; hier 2 neigt
man eher der entgegengesetzten Auffassung zu, welche, ihrerseits in der Wissenschaft von
Laband und v. Seyde (verfochten, in den Sätzen gipfelt: „Es gibt kein Heer des Reiches,
sondern nur Kontingente der Einzelstaaten“ (Laband 4 5). „Das deutsche Heer ist nach der
Verfassung ein Kontingentsheer“ (v. Seydel, Hirths Annal. 1875, S. 1390).
Über das Grundprinzip der deutschen Armeeverfassung herrscht also Streit. Man möchte
versucht sein, diesen Streit sehr einfach, mit dem Hinweis auf den Text der RV. Art. 63 Abs. 1,
für erledigt zu erklären. Heißt es doch dort: „Die gesamte Landmacht des Reichs wird ein ein-
heitliches Heer bilden, welches in Krieg und Frieden unter dem Befehle des Kaisers
steht.“ Damit scheint die Frage im Sinne des Einheitsheeres entschieden und, lex locuta, causa:
finita, die Laband-Seydelsche Meinung ins Unrecht gesetzt zu sein. Indessen trügt
dieser Schein. Einmal ist auf den Gebrauch, den die Reichsverfassung von den Worten „Einheit",
1 Bindende Richtschnur für die Aufstellung des Reichsmarineetats ist die gesetzlich festgelegte
Organisation der Flotte: Ges. betr. die deutsche Flotte vom 14. Juni 1900, mit Novellen vom
5. Juni 1906 und 6. April 1908.
* Vgl. die Denkschrift des Reichskanzlers, abgedruckt Arch. f. öff. R. 4 150 ff. Weitere
Belege das. 159 ff. und bei Laband 4, 6, Anm.