Deutsches Staatsrecht. 189
mehr ist durch Art. 109 daselbst bestimmt: „Die bestehenden Steuern und Ausgaben
werden forterhoben und alle . Gesetze . bleiben in Kraft, bis sie durch ein Gesetz ab-
geändert werden.“ Damit ½ wollte gesagt sein: Rechtstitel der Steuererhebung ist nicht das Etats-
gesetz, sondern das materielle Gesetz, auf dem die Steuer beruht; das Recht und die Pflicht der
Regierung, die Steuergesetze, z. B. das Einkommensteuergesetz, ebenso wie alle anderen Gesetze
zu vollziehen, ist nicht bedingt durch das Zustandekommen des Etatsgesetzes noch sonst durch
das Budgetrecht des Landtages beschränkt; die Steuergesetze sind nicht, wie in Belgien, leges
annuae, Jahresvollmachten, sondern gelten so lange, bis sie aufgehoben werden, wozu aber ein
einseitiger Beschluß der Volksvertretung selbstverständlich nicht ausreichend, sondern das legis-
lative Zusammenwirken, die Übereinstimmung von Krone und Volksvertretung erforderlich ist.
Kurz: das Budgetrecht des preußischen Landtages enthält das Steuer-
bewilligungsrecht nicht. Ferner auch, unbestrittenermaßen, nicht das Recht, der Re-
gierung die Vereinnahmung der Erträgnisse des Staatsvermögens, der Domänen, Forsten,
Eisenbahnen, zu verbieten. Es fehlt also insoweit überhaupt das, was man „Einnahme-
bewilligungsrecht“ nennt. Die Folge dieser Tatsache, insbesondere des Art. 109, war, um mit
Gneist (Gesetz und Budget S. 174, 175) zu reden, „ein von Jahr zu Jahr sich fortsetzender
Drang, den gesuchten konstitutionellen (d. h. parlamentarischen) Einfluß, den man auf der
Einnahmeseite verfehlt hatte, auf der Ausgabeseite zu finden“. Als Entgelt für den entgangenen
Gewinn des Steuerbewilligungsrechts wurde und wird noch heute in Theorie und Praxis
vielfach ein unbeschränktes Ausgabenbewilligungs- und Ausgaben-
verweigerungsrecht des preußischen Landtages behauptet. Jedoch ohne Anhalt in
der Verfassung, de lege lata daher zu Unrecht.
Die unzweideutige Verneinung des Rechts, die „bestehenden“, d. h. auf Grund der gelten-
den Gesetze erhobenen Steuern zu verweigern, Art. 109 a. a. O., schließt mit nichten die Bejahung
des vollen parlamentarischen Ausgabenbewilligungs- und erweigerungsrechtes in sich, (anderer
Meinung namentlich Haenel und Arndt gegen Laband, Gneist und die herrschende
Meinung). Art. 99 der preuß. Vll. (Wortlaut s. oben) sagt nicht, daß die Ausgaben „bewilligt",
sondern daß sie „„#eranschlagt“ werden sollen, legt zudem den Hauptnachdruck der Satz-
fügung mehr auf „für jedes Jahr“ wie auf „veranschlagt“. Ein so exorbitanter Grundsatz wie
der, daß das Ausgabenbewilligungsrecht des Landtages auch durch die bestehenden Gesetze,
gesetzlichen Einrichtungen und Rechtspflichten des Staates nicht beschränkt, daß das Amt der
Staatsregierung, jene Gesetze zu vollziehen, diesen Pflichten nachzukommen, auf alljährliche
Erneuerung durch die einseitigen Budgetbeschlüsse der Kammer gestellt sei, müßte aus-
drücklich von der Verfassung ausgesprochen sein, um als ihr Wille gelten zu dürfen.
Eine solche ausdrückliche Bestimmung enthält aber die preußische Vll. nicht. Sie sagt
nirgends, daß der Art. 99 im Sinne jenes französisch-belgischen Budgetrechts bzw. der
Vorstellungen, welche der parlamentarische Radikalismus vor und nach 1848 sich von diesem
Budgetrecht gemacht hat, auszulegen sei. Eine dahingehende Auslegung ist rechtsirrtümlich.
Rechtsirrtümlich insbesondere mit der Begründung (v. Martitz, Zorn, namentlich
aber Haeneh), daß der gemäß Art. 99 a. a. O. festgestellte Etat nicht nur formell, sondern
auch materiell Gesetz sei, nämlich „die oberste, alle gesetzlichen Einzelbestimmungen
zusammenordnende und damit ergänzende, verfassungsmäßig notwendige Er-
mächtigung für die Finanzverwaltung behufs der Verwendung aller voraussehbaren Ein-
nahmen und behufs der Bewirkuhg aller voraussehbaren Ausgaben des Etatsjahres“ (OGaenel,
Studien 2 328). Wäre dem so, stellte das Etatsgesetz in der Tat die von der Regierung alljährlich
einzuholende „Ermächtigung“ zur Führung der Finanz= und damit überhaupt der Staatsgeschäfte
dar, bedürften sämtliche Gesetze der jährlich zu ermeuernden Vollziehbarkeitserklärung durch das
Votum der Kammern, so wäre an diesem Punkte durch die Verfassung in schroffem Widerspruch
mit ihrer sonst streng monarchischen Struktur Parlamentsherrschaft eingeführt. Dies
als Absicht der Vll. zu vermuten, geht nicht an. Der wahre, in freier Prüfung des Art. 99 zu er-
1 Art. 109 steht nicht etwa unter den Übergangs-, sondern in den allgemeinen Be-
stimmungen der Verfassung, bezieht sich also nicht sowohl auf die 1850 bestehenden, als auf alle
gegenwärtigen und zukünftigen Steuern und Steuergesetze.