Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Verwaltungsrecht. 211 
Herrschaft gelangenden Auffassung zum guten Zustande eines Gemeinwesens nicht mehr nur 
der gesicherte Bestand einer Rechtsordnung, sondern alles, was erforderlich war zur irdischen 
Glückseligkeit der Bürger. Alle möglichen Eingriffe der Obrigkeit in die Privatsphäre der Bürger 
ließen sich rechtfertigen unter dem Gesichtspunkte der Sorge für die Wohlfahrt des einzelnen 
und des Ganzen. Die alte Rechtslagc, bei der die Beziehungen der öffentlichen Gewalt zu den 
Untertanen genau bestimmt waren durch die einzelnen fest umgrenzten Hohcitsrechte, wurde 
mit Hilfe des jus politiae zerstört. Dieses gab den Landesherren eine allgemeine, jederzeit 
ausdehnungsfähige Machtstellung. Es sog die anderen Hoheitsrechte in sich auf und machte 
rechtlich freie Bahn für die Entwickelung der absoluten Staatsgewalt. Vgl. auch oben § 3 I. 
Die Verwaltung war in diesem Polizeistaate durch eine Rechtsordnung, d. h. eine Ordnung, 
die bindend ist für die Obrigkeit dem Untertanen gegenüber, überhaupt nicht mehr gebunden. 
Was der Landesherr für zweckmäßig hielt, ordnete er an, und was er anordnete, war verbindlich 
für jeden, den es anging. Die Beamten und Behörden des Landesherm funktionierten lediglich 
nach seinen Anweisungen, die gewöhnlich in umfassenden Dienstinstruktionen zusammengestellt 
waren. Allein weder die Beamten noch die Untertanen konnten irgendwelche Rechte füresich 
aus diesen Anweisungen herleiten. Der Landesherr konnte sie jederzeit aufheben und abänderm, 
er konnte für den Einzelfall besondere Anordnung erlassen, jede einzelne Entscheidung einer 
Behörde abändern wie auch jede Angelegenheit in jedem Stadium zur höchsteigenen Ent- 
scheidung an sich ziehen. Die Untertanen, die sich durch Anordnungen der Obrigkeit verletzt fühlten, 
hatten lediglich das Recht der Beschwerde bei den höheren Instanzen, bis herauf zum Landes- 
herrn; nur in Kammer- und Domanensachen war ihnen eine Klage gegeben, über die aber regel- 
mäßig Verwaltungsbehörden entschieden (vgl. vorige S.). Daher das Rechtssprichwort: „In 
Polizeisachen gibt es keine Appellation" (nämlich an die Gerichte). 
Auch die ordentlichen Gerichte hatten im Polizeistaate zunächst keine Selbständigkeit gegen- 
über den Landesherren. Wohl waren sie bestellt, das Zivil- und Strafrecht nach Maßgabe der 
bestehenden Rechtsordnung zu pflegen, allein der Landesherr fuhr auch in ihre Rechtsprechung 
mit Befehlen und „Machtsprüchen“, wie man damals die Erledigung eines Prozesses durch 
landesherrliche Verfügung nannte, hinein. War der Landesherr schon nach altem Rechte als 
der oberste Träger der Gerichtsbarkeit in seinem Lande befugt, an Stelle seiner Gerichte zu 
entscheiden, so ließ sich sein Eingreifen in die Rechtsprechung jetzt noch mehr unter dem Gesichts- 
punkte rechtfertigen, daß zu den Aufgaben der Polizei auch die Sorge für eine ordentliche Rechts- 
pflege gehörte. Allein gerade die Stellung der Gerichte erfuhr im Polizeistaate eine grundsätzliche 
Anderung. Als er die Höhe seiner Entwickelung erreicht hatte, gegen das Ende des 18. Jahr- 
hunderts, gelangte in Preußen unter Friedrich dem Großen und dann auch in anderen Staaten 
der Grundsatz zur Anerkennung, daß Machtsprüche des Landesherrn in Prozessen oder wenigstens 
doch in Zivilprozessen ausgeschlossen sind, und daß die Richter nur absetzbar sind durch richter- 
liches Urteil. Damit aber war zum guten Teile das gegeben, was wir heute nennen die Un- 
abhängigkeit der Gerichte. Erst mit dieser Sicherstellung gegen landesherrliche Eingriffe waren 
die Gerichte in die Lage gesetzt, einen zuverlässigen Rechtsschutz zu gewähren; erst mit ihr hob 
sich die Stellung der Gerichte in der staatlichen Ordnung scharf ab von der der Verwaltungs- 
behörden. Jene waren lediglich auf das Gesetz gestellt und entschieden allein nach diesem die 
vor sie gebrachten Sachen („Justizsachen"). Diese waren nach außen hin überhaupt an keine festen 
Normen gebunden sie entschieden die Angelegenheiten ihres Ressorts nach freiem Ermessen oder 
nach Dienstanweisungen, die aber auch wieder nur auf dem freien Ermessen einer übergeordneten 
Stelle beruhten. Während es eine Privatrechts- und eine Strafrechtsordnung gab und deren 
Wahrung gesichert war, gab es keine Rechtsordnung für die öffentlichen Verhältnisse, kein Ver- 
waltungsrecht. Alles, was hier bestimmt ist, „gilt nur als precarium, der Staat ist der absolute 
Herr aller öffentlichen Angelegenheiten“. 
Eine Entscheidung nach Rechtssätzen konnte bei dieser Gestaltung der staatlichen Ordnung 
nur der erlangen, der die ordentlichen Gerichte angehen konnte. Die Landesherren unterwarfen 
sich ihren Gerichten aber nur insoweit, als sie als Privatmann aufgetreten waren (in Verhältnissen 
des gewöhnlichen Vermögensverkehres, bei Gewerbebetrieb). Wo es sich dagegen um hoheit- 
liche Akte der Landesherren und deren Beamten handelte, waren die Landesgerichte unzuständig, 
und da die Reichsgerichte, die hier zuständig waren, tatsächlich nicht in der Lage waren, den 
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