18 G. Anschütz.
Rechtsordnung eingesetzt hat durch seinen Willen, — einen Willen, der hier nun freilich nach
Art und Maß nichts mehr gemeinsam hat mit dem Wollen und Können der Privatpersonen.
An diesem Beispiel, der Gerichtsbarkeit, sehen wir: der Staat hat außer der gemein-
gewöhnlichen, aus dem Wesen der Rechtspersönlichkeit folgenden, weiterhin eine ihm eigene
Willensmacht. Diese heißt Staatsgewalt (Eynonyme: Staatshoheit, Imperium). Ihr
Wesen lehrt das Wort Gewalt: Gewalt hat, wer die Freiheit der Menschen durch Befehl und
Zwang beschränken darf. Gewalthabender Verbände gibt es nun viele im Staate: legen doch
die Gemeinden ihren Bürgern und Einwohnern Steuern auf, erteilen doch die Kirchen und
andere öffentliche Korporationen ihren Mitgliedern bindende und zwingende Vorschriften von
mancherlei Art, Vorschriften, welche den Gebundenen binden, nicht weil er will, sondern
weil „man“, weil der Verband, die Korporation will. Auch läßt die Bezeichnung Staats-
gewalt deutlich erkennen, daß das Prädikat des Gewalthabers auch noch anderen Wesen und
Gemeinwesen außer dem Staate zukommen mag. Der Staat hat in seinem Machtbereiche
nicht die einzige Gewalt. Aber er allein hat die herrschende Gewalt.
Staatsgewalt ist die dem Staate ausschließlich zustehende
Fähigkeit, Land und Leute zu beherrschen. Damit will gesagt sein einmal:
die Staatsgewalt ist die oberste Gewalt ihres Bereichs, ihr Befehl hat den Vorrang vor
den Befehlen der anderen, untergeordneten Gewalten des Landes, ihr Wille bricht jeden Wider-
stand. Femer aber und mehr: Befehlen und Zwingen ist ein dem Staate ausschließlich vor-
behaltenes Tun. Die Staatsgewalt hat in ihrem Herrschaftsbereich das Monopol des
sozialen Zwanges.
Das ist eine Haupterrungenschaft der modemen Staatsentwicklung, ein Satz, der heute
unumstritten gilt, freilich nicht immer gegolten hat. Die weiter zurückliegenden Entwicklungs-
stufen der Staatsgewalt sind allenthalben gerade dadurch charakterisiert, daß der Staat die be-
zeichnete überragende, alleinherrschende Stellung nicht innehatte noch beanspruchte. Dies gilt
insbesondere von der Gestaltung der politischen Verhältnisse im Mittelalter. Diejenige Macht,
welche beispielsweise in Deutschland der Hauptträger der neueren Staatsbildung gewesen ist,
die landesherrliche Gewalt (Landeshoheit), erscheint im Mittelalter und noch geraume Zeit
nachher durchaus nicht im Alleinbesitz aller Herrschafts-und Zwangsgewalt innerhalb ihres
Territoriums; dort gibt es vielmehr mancherlei Herren und Herrschaftsrechte neben dieser
werdenden, unvollkommenen Staatsgewalt: neben der landesherrlichen treten die grund-- und
gutsherrliche Gewalt, die Autonomie der Städte, das Besteuerungsrecht der Ständekorporationen,
vor allem die Herrschermacht der Kirche mit der begründcten Prätension der Gleichordnung
und des eigenberechtigten, aus der Landeshoheit nicht abgeleiteten Charakters auf. Dem-
gegenüber geht die Tendenz der sozialen und politischen Entwicklung seit Anbruch der neueren
Zeit auf Vemichtung aller selbständigen, originären Herrschaftsrechte außerhalb der Staats-
gewalt, auf Absorption jener durch die letztere Gobbes, Gleichnis vom großen Leviathan,
der alles eigenständige, von ihm nicht geschaffene Herrscherrecht verschlingt). Der Zielpunkt
dieser Entwicklung ist im Staate der Gegenwart unzweifelhaft erreicht: Herrschaft, Befehl und
Zwang kann heute nur vom Staate ausgehen, von niemand sonst.
Der Staat bedeutet in der heutigen Ordnung des menschlichen Gesellschaftslebens die
Konzentration alles sozialen Zwanges in einem Punkte. Dieser Brennpunkt ist der
Staat selbst: von ihm strahlt aller Zwang aus. Der Staat ist die Gesellschaft als Zwangs-
organisation. Damit ist das Verhältnis einerseits der Begriffe Staat und Gesellschaft,
Staatsleben und Gemeinleben, andererseits der Begriffe Staat und Recht im Kerne bezeichnet.
Es ist deutlich, daß die Aussage: „der Staat ist das Gemeinleben als Zwangsorganisation“,
nicht dahin mißverstanden werden kann, daß der Staat mit der Gesellschaft überhaupt identisch
6. daß das menschliche Gemeinleben restlos im Staate aufgehe. Das wäre nicht sowohl eine
Überspannung des Staatsbegriffs als ein flagranter Widerspruch mit der Welt der Tatsachen.
Nicht überall, wo Menschen miteinander sind, wo soziale Kräfte sich regen, geschieht dies unter
dem Drucke von Zwang und Befehl und infolgedessen unter der Herrschaft des Staates. Das
Gemeinleben der Menschen birgt in seinen Höhen und Tiefen vieles, was den Staat nicht kümmert.
Man denke an die Welt des Religiösen, der verfeinerten ethischen Empfindungen, der Kunst,
des gesellschaftlichen Verkehrs von Mensch zu Mensch: überall ein soziales Dasein, ein Zu-