Deutsches Staatsrecht. 21
jedenfalls dann und insoweit nicht, als sie an Rechtsschranken gebunden ist. Ist sie dies, so ist
sie auch, selbswerständlich, für die Innehaltung dieser Schranken verantwortlich, haftet sie für
deren Überschreitung. So tritt, bei durchgeführter Gewaltenteilung, die Staatsgewalt als
Verwaltung (vollziehende Gewalt) den Untertanen in rechtlicher Gebundenheit gegen-
über und erscheint insofern allerdings „verantwortlich"“. Verantwortlich ist die Staatsgewalt
des Einzelstaates im Bundesstaat für Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber der Zentralgewalt
(vgl. Art. 19 der deutschen Reichsverfassung: wenn Bundesglieder — d. h. Einzelstaaten —
ihre verfassungsmäßigen Bundespflichten nicht erfüllen, können sie dazu im Wege der Exekution
angehalten werden. Diese Exekution ist vom Bundesrate zu beschließen und vom Kaiser zu voll-
strecken). Verantwortlich sind Staat und Staatsgewalt vor allem in ihrer Gebarung anderen
Staaten gegenüber, im intemationalen, durch das Völkerrecht geregelten Verkehr; die Ver-
antwortlichkeit erstreckt sich hier darauf, die völkerrechtlich geschützten Interessen dritter Staaten
zu achten, völkerrechtliche Delikte (s. über diesen Begriff v. Liszt, Völkerrecht § 24) zu meiden.
Die hier und da (vgl. wiederum Maurenbrecher a. a. O.) heworgehobene „Un-
widerstehlichkeit“ der Staatsgewalt ist nur ein anderer Ausdruck für die Herrscherstellung inner-
halb ihres Gebietes. Ein Widerstand der Untertanen gegen den Staat, von dem alle Rechts-
ordnung ausgeht, gegen die kons legum, läßt sich rechtlich nicht begründen.
Eingehendere Betrachtung verlangt die Frage, ob Unabhängigkeit zu den essen-
tiellen Eigenschaften der Staatsgewalt gehöre. Diese Frage kommt auf eines hinaus mit der
anderen, ob Souveränetät zu denjenigen Merkmalen gehört, ohne welche der Staat
nicht mehr Staat ist. ·
Denn Souveränetät bedeutet volle Unabhängigkeit: Unabhängigkeit eines Rechtssubjekts,
insbesondere eines Gemeinwesens von andern. Eine Folge solcher Unabhängigkeit ist es, daß
das souveräne Gemeinwesen selbstherrlich darüber bestimmen kann, was es darf und soll. Souve-
ränetät ist „Rechtsmacht eines Gemeinwesens über seine Kompetenz“ (Laband); oder, anders
ausgedrückt: rechtliche Fähigkeit zur Eipenmacht.
Dem Mittelalter 1 ist der Begriff der Souveränetät unbekannt: erklärlich, denn der
Begriff setzt voraus ein System unabhängiger, einander gleichgeordneten Staaten, von denen
jeder in seinem Gebiete unbeschränkt und allein herrscht. An dieser Voraussetzung fehlte es aber
damals: die Territorien und Länder des Mittelalters waren weder unabhängig nach außen
und oben — denn über ihnen erhoben sich die Universalgewalten von Kaiser und Papst —,
noch erfreuten sich ihre Herren einer unbeschränkten Herrschaft im Innemm: waren sie doch
häufig nicht viel mehr als die Diener der ständischen Mächte ihres Landes, des Adels und der
Städte. Die „Souveränetät"“ ist offenbar nichts anderes als ein Ausdruck für das Ziel, dem
die Entwicklung des mittelalterlichen Staates entgegenstrebte, und dies Ziel bestand darin, von
den universalen Gewalten loszukommen und die auf ihr „eigenes Recht“ trotzenden Herrschafts-
träger innerhalb des Landes, Adel und Städte, zu bändigen und aufzusaugen. Dieses Ziel
ist auf dem europäischen Kontinent zuerst in Frankreich erreicht worden, und es erscheint
daher nur begreiflich, daß es hier auch zuerst zu einer klaren Erkenntnis und Formulierung
des Souveränetätsbegriffes kam. Die französische Rechtssprache kennt schon im Mittelalter
den Ausdruck „§oVvrain“. Dieser Ausdruck wird zunächst nicht nur auf den Höchsten im Lande,
den König, sondern bezeichnenderweise auch auf jeden Feudalherrn (Baron) angewendet
(„chacun baron est sovrain dans sa baronnie“: vgl. Jellinek 434 Anm. 4). Sovrein ist
jeder „Obere“, jeder, der Untertanen hat; das Wort ist auf dieser Entwicklungsstufe offenbar
noch kein Superlativ, sondern ein Komparativ, es entspricht dem lateinischen superior, nicht
dem supremus. Im Zuge der oben angedeuteten politischen Entwicklung befestigt sich nun
aber die Erkenntnis, daß die Gewalten des im König personifizierten Staates und der Feudal-
herren nicht gleichartig, sondern so ungleichartig seien, daß es nicht angehe, dasselbe Wort sovrain
von beiden zu gebrauchen: „souverän“ wird nunmehr nur noch der Inhaber der höchsten
Macht genannt; höchste Macht aber eignet nicht den feudalen und kommunalen Gewalten,
Adel und Städten, sondem nur dem Staate: deshalb, weil und seitdem der Staat sich zum
1 Die Geschichte des Souveränetätsbegriffs ist am besten dargestellt von Jellinek,
Staatsl. 421 ff.