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nichten. Souveränetät gehört zu den Eigenschaften, welche ein Staat nur entweder ganz oder
gar nicht haben kann 1.
Es fragt sich nun freilich, ob der nichtsouverane Staat überhaupt noch Staat ist, ob die
Souveränetät zu den notwendigen oder zu den entbehrlichen Eigenschaften der Staatsgewalt
gehört. Die auf Bodin zurückgehende ältere Theorie hatte sich, wie erwähnt (oben S. 22),
für die Notwendigkeit erklärt, und auch heute noch besitzt diese Auffassung angesehene Vertreter
(Seydel, Zorn). Dagegen hat sich die gegenwärtig in Deutschland herrschende Meinung
nach dem Vorgange Labands entschlossen, auf das Erfordemis der Souveränetät als eines
wesentlichen Merkmals der Staatsgewalt zu verzichten.
Dieser Verzicht ist wohlbegründet. Er läßt sich nicht umgehen, wenn man mit der Wirk-
lichkeit der Dinge, wie sie ist und geworden ist, in Einklang bleiben will. Die Behauptung, daß
es nichtsouveräne Staaten nicht gebe noch geben könne, ist ebenso unpolitisch wie unhistorisch;
sie wird vor allem widerlegt durch das Dasein der deutschen Einzelstaaten. Sollen die letzteren,
in Vergangenheit und Gegenwart einer höheren Staatsgewalt, der Reichsgewalt untertau,
also zweifellos nichtsouverän, etwa keine Staaten sein? Entstanden unter dem Zeichen der
Nichtsouveränetät, der Unterordnung unter Kaiser und Reich, sind die Einzelstaaten unter
eben diesem Zeichen in Deutschland geraume Zeit Alleinträger des ausdämmernden
modemen Staatsgedankens gewesen, der in ihnen nur, im alten Reiche aber nie Leben
gewann. Und heute blüht und gedeiht diese Welt der Einzelstaaten unter dem nämlichen
Zeichen, im neuen Reich.
Es ist also geradezu die historische Eigenart des deutschen Einzelstaates, daß er der Souveräne-
tät entbeyrt. Die sechzig Jahre zwischen dem Zusammenbruch des alten Reiches und der Be-
gründung des neuen können hieran nicht irre machen. Diese Epoche der Staatenbünde (val.
unten § 5, 6) war nur ein Übergangs-, ein Ausnahmezustand, sie zeigt uns die deutschen Einzel-
staaten im Besitze einer formellen Souveränetät, auf die sie, historisch betrachtet, nicht den
mindesten Anspruch hatten, einer Souveränetät, die, um mit Bismarck (G. u. E. 1 295) zu reden,
nichts anderes war als „eine revolutionäre Errungenschaft auf Kosten der Nation und ihrer
Einheit“. Dadurch, daß diese Errungenschaft von den Inhabem selbst wieder aufgegeben und
dahin verlegt wurde, wo sie hingehört, in die Hand einer nationalen Staatsgewalt, der Reichs-
gewalt, ist nur der politische Normalzustand Deutschlands wieder hergestellt: die Einzelstaaten,
die Länder, sind überhöht durch den Kuppelbau des nationalen Staates, des Reichs. Die
Souveränetät der solchergestalt Überwölbten ist hiermit freilich verneint, nicht aber ihre
Staatlichkeit. Staaten, wirkliche, nicht bloß sogenannte, sind die deutschen Einzelstaaten noch
heute, sie waren es nicht nur von 1806—1866, sondern schon lange vor 1806, vor dem Unter-
gang des alten Reiches. Wer wollte behaupten, daß Preußen nur diese sechzig Jayre lang ein
Staat gewesen sei, vordem aber, im Zeitalter Friedrichs des Großen nicht und seit der Gründung
des Norddeutschen Bundes nicht mehr?
Staatsrechtliche Begrifse sollen sich der politischen Wirklichkeit anpassen, ihr gerecht werden,
nicht ihr ins Gesicht schlagen. So fordert die politische Vergangenheit und Gegenwart des deutschen
Volkes einen Staatsbegriff, der auf das nationale wie das partikulare Gemeinwesen gleicher-
weise anwendbar ist, der das Reich, nicht minder aber auch das Land als staatliche Gebilde,
als Staaten erscheinen läßt. Der hiermit geforderte Staatsbegriff muß, wie sich aus allem
Gesagten ergibt, die Souveränetät aus dem Kreise der Essentialien ausscheiden. An ihrer Statt
muß er auf ein anderes Merkmal Wert und Gewicht legen: auf das — oben (S. 19) bereits
heworgehobene — Moment der Ursprünglichkeit, der Eigenständigkeit des
staatlichen Imperiums, das Moment des eigenen Rechts zu Herrschaft und
Befehl. Dies Moment trifft bei den deutschen Einzelstaaten zu. Souverän sind sie nicht,
denn ihr Selbstbestimmungsrecht findet seine Grenze in dem Dasein und der Zuständigkeit der
ihnen übergeordneten Reichsgewalt. Dennoch sind sie Staaten. Denn sie herrschen. Sie
haben die Macht und Fähigkeit, ihren Untertanen zu befehlen und sie zur Befolgung dieser
1 Die Berechtigung oder Nichtberechtigung des völkerrechtlichen Sprachgebrauchs, von
„halbsouveränen“ Staaten zu reden, ist hier nicht zu untersuchen.