Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

26 G. Anschütz. 
der Träger der Staatsgewalt übt in Handhabung seines amtlichen Berufes nicht eigenes, 
sondern fremdes Recht, des Staates Gewalt im Staate aus (s. oben S. 10, 11). 
Die Ordnung, welche die Bildung und Zuständigkeit der Staatsorgane regelt, heißt die 
Verfassung des Staates. In einem engeren Sinne wird „Verfassung“ genannt der 
Inbegriff der Grundsätze, nach denen die obersten Staatsorgane, der Träger der Staats- 
gewalt immer voran, eingerichtet sind. Und schließlich zeigt sich das vielsagende Wort in noch 
engeren Bedeutungen, wenn man damit, wie gebräuchlich, entweder einen bestimmten Typus, 
eine gewisse Form der Staatsverfassung im weiteren Sinne, nämlich die lonstitutionelle, 
durch Beteiligung einer Volksvertretung bei Ausübung der gesetzgebenden Gewalt gekenn- 
zeichnete Verfassungsform, — oder aber die zusammenfassende Kodifikation der Ver- 
fassungsnormen, das Staatsgrundgesetz,, unter der Bezeichnung „Verfassung“ versteht. 
IV. Tätigkeitsgebiete und Funktionen der Staatsgewalt. — Die Staatsgewalt ist eine 
in sich einheitliche Gewalt; wie der Staat selbst, so stellt auch sein Wille, die Staatsgewalt, eine 
rechtliche Einheit dar. Diese Einheit ist eine lückenlose. Das heißt: man darf sich die Staats- 
gewalt nicht vorstellen als ein Konglomerat einzelner, individualisierter Herrschafts- oder 
Hoh /itsrechte des Staates, von denen ein jedes seine sesten Grenzen hat und von dem nächsten 
Hoheitsrecht durch ein Vakuum, ein Nichtdürfen der Staatsgewalt getrennt ist. Aller- 
dings war es in früheren Perioden der Wissenschaft und ist es auch heute noch üblich, die 
Staatsgewalt in eine Reihe von einzelnen Gewalten oder „Hoheiten“ zu differenzieren, man 
nennt da etwa das Recht über Krieg und Frieden, die Finanzhoheit, Justizhoheit, Kirchen- 
hoheit, die Polizeigewalt usw. Solche Aufzählungen und Spezialisierungen sind auch an sich 
nicht zu verwerfen, sofern man dabei nur, wie v. Gerber (Grundzüge des deutsch. Staatsr. 
S. 71) richtig bemerkt, „das Mißverständnis fermhält, jene einzelnen Hoheiten seien rechtlich 
unverbundene besondere Spezialrechte des Staates; vielmehr handelt es sich bei allen diesen 
Hoyeiten immer um die eine Staatsgewalt, welche nur vom Gesichtspunkte eines besonderen 
Tätigkeitskreises angeschaut wird.“ In der Tat umfaßt die Gewalt des modernen Staates nicht 
eine bloße Zusammenstellung gewisser Hoheitsrechte, sondern die Totalität aller. Sie ist 
eine unbegrenzte Herrschermacht, die sich betätigen mag auf allen Gebieten des mensch- 
lichen Gemeinlebens, denen sie sich widmen will und in allen Formen der Menschen- 
beherrschung, die sie zur Erreichung ihres Betätigungszwecks für dienlich erachtet. 
Es ist deutlich, daß die in der älteren Literatur mit Vorliebe behandelte Frage nach dem 
Wirkungskreise der Staatsgewalt und seinen Grenzen, — die Lehre vom „Staatszweck“ — 
eine gar nicht aufzuwerfende Frage ist, sofern gefragt werden will, nach einem mit Rechts- 
verbindlichkeit für alle Staaten ausgestatteten Normalkatalog der Staatszwecke, nach Vor- 
schriften, aus denen zu entnehmen sei, was der Staat „darf“ und „soll“ oder „nicht soll“. Solche 
Vorschriften gibt es nicht. Es sind das Fragen, welche einem früheren, naturrechtlich gestimmten 
Zeitalter wichtig und lösbar erscheinen mochten, die aber in der heutigen Staatsrechtswissen- 
schaft kaum anders als durch Übergang zur Tagesordnung zu erledigen sind. Es gibt kein Staats- 
recht, welches der Gesamtpolitik des Staates Aufgaben, Grenzen und Richtung anweist. — 
Hierzu ist jedoch anzumerken: 1. Der Satz von der Lückenlosigkeit und Geschlossenheit der Staats- 
gewalt ist nicht immer und für alle Stufen der Staatsentwicklung, so wie heute, eine Wahrheit 
gewesen. Was oben zurückgewiesen wurde, die Vorstellung von der Staatsgewalt als eines 
Konglomerats einzelner Hoheitsrechte, ist gerade zutreffend und charakteristisch für den älteren 
deutschen Territorialstaat (s. die Darstellung der deutschen Rechtsgeschichte in dieser Encyklopädie 
sowie unten S. 31). Diese ältere Formation des deutschen Staatsrechts zeigt den Landes- 
herrn noch keineswegs als Träger einer allumfassenden Staatsgewalt, sondem als Besitzer und 
Inhaber der Landeshoheit, d. h. eines Komplexes einzeln erworbener Hoheits- 
rechte an Land und Leuten, einer Sammlung, in welcher Gerichtsbarkeit, Militärhoheit, 
Regalien, Kirchenregiment, Lehnsherrlichkeit und anderes zu figurieren pflegten. Es ist eine 
Gestaltung des Staatswesens und der Staatsgewalt, welche für den heutigen Stand dieser 
Dinge in jeder Hinsicht die Folie eines historischen Gegensatzes darbietet. — 2. Das Prinzip 
der Universalität des staatlichen Wirkungskreises (Staatszwecks) gilt streng und ausnahmslos 
nur für den Normalstaat, den Einheitsstaat; im Bundesstaate dagegen mit der 
Maßgabe, daß weder die Bundesgewalt (Reichsgewalt) noch die Einzelstaatsgewalten, jede
	        
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