Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

28 G. Anschütz. 
Die drei „Gewalten“ (pouvoirs, puissances bei Montes quieu,), den drei aristotelischen 
Grundfunktionen analog, sind diese: die gesetzgebende Gewalt (puissance législative), 
welche allgemeine Normen aufstellt, nach denen sich jeder im Staate, den sie angehen, zu richten 
hat und die auch für die beiden anderen „Gewalten“ und deren Träger verbindlich sind; — die 
richterliche Gewalt (puissance cle juger), welche die über die Anwendung der ebengedachten 
Normen, der Gesetze, entstehenden Streitfälle entscheidet, — endlich die vollziehende 
Gewalt (puissance exécutive oder exécutrice), welche den Staatswillen handelnd in die Tat 
umsetzt, in Vollzug der Gesetze. Diese Begriffsbestimmung und gegenseitige Begrenzung der 
drei Grundfunktionen ist noch heute allgemein angenommen, mit Ausnahme der zu engen und 
einseitigen Auffassung Montesquieus vom Wesen der „vollziehenden“ Gewalt, der 
Verwaltung, wie der neuere deutsche Sprachgebrauch diese Funktion nennt. Wesen 
und Inhalt der „Verwaltung“, also des Stückes Staatsgewalt, welches übrig bleibt, wenn man 
von dem Ganzen einerseits die gesetzgebende, andererseits die richterliche Tätigkeit in Abzug 
bringt, ist mit der Vorstellung des bloßen Gesetzvollzuges, der Verwirklichung der vom Gesetz- 
geber ausgehenden Willensimpulse keineswegs ausreichend gewürdigt. Die Ausführung von 
Beschlüssen der gesetzgebenden Gewalt (man denke etwa an ein Gesetz, welches den Bau einer 
Staatseisenbahn, oder eines Schiffahrtskanal, oder die Einsetzung eines neuen Gerichtshofes, 
oder die Vereinigung zweier Gemeinden anordnet) bildet eine Kategorie von Aufgaben der 
Verwaltung, nicht die einzige. Ein Verwaltungsakt liegt vor, wenn das kompetente Staats- 
organ eine Bauerlaubnis oder sonstige Konzession erteilt, wenn Beamte ein= und abgesetzt werden; 
Verwaltungsakte großen Stils aber unbezweifelt Verwaltungsakte sind: der Abschluß eines 
Staatsvertrages, die Mobilmachung der bewaffneten Macht, Kriegserklärung und Friedens- 
schluß. Um bloßen „Gesetzesvollzug“ im Sinne einer Umsetzung des gesetzgeberischen Willens 
in die Tat, handelt es sich in diesen wie in unzähligen anderen Fällen überall nicht. Die richtige 
Vorstellung vom Wesen der Verwaltung ist nicht die, daß immer der Gesetzgeber erst wollen 
muß, damit die Verwaltung handeln darf, daß die Verwaltungstätigkeit nur von Fall zu Fall 
durch legislative Impulse ausgelöst wird, — sondern die, daß die Verwaltung eine freie, nament- 
lich in Bezug auf die Fassung ihrer Entschlüsse freie, handelnde Staatstätigkeit ist zur Erreichung 
der Staatszwecke nach Maßgabe und innerhalb der Schranken des Gesetzes. 
Die Verwaltung verhält sich zum Gesetz nicht, wie die Tat zu dem Entschluß, der sie herbei- 
führt, sondern wie der Wille zu der Norm, die seinem Dürfen Schranken setzt. Die Ver- 
waltung ist durch das Gesetz nicht bedingt, sondern beschränkt 
(weiteres hierüber unten § 44). 
Die Unterscheidung zwischen gesetzgebender, richterlicher und vollziehender Gewalt hat 
bei Montesquienu nicht sowohl die Bedeutung einer rein theoretischen, den Sinn für 
systematische Ordnung befriedigender Distinktion, sondern vor allem die Tragweite eines poli- 
tischen Prinzips; sie zielt nicht sowohl auf die Erkenntnis dessen, was ist, als auf die Verwirk- 
lichung dessen, was sein soll. Die Gewaltenteilung soll in der Staatsverfassung auch praktisch 
zum Ausdruck gebracht, soll organisatorisch durchgeführt werden. Denn — so deduziert Montes- 
quien in heute noch unübertroffener Klarheit und Schärfe politischen Erkennens — die Staats- 
herrschaft artet in Willkür aus, die Freiheit der Beherrschten, der Individuen ist mit Vernichtung 
bedroht, wenn alle drei Gewalten Einem übertragen, in einer Hand vereinigt sind. Die 
drei Gewalten sollen vielmehr an drei getrennte, voneinander unabhängige Staatsorgane bzw. 
Gruppen von Staatsorganen derart verteilt sein, daß die Organe der einen Gewalt sich nicht 
einmischen können in das den Organen der beiden anderen Gewalten vorbehaltene Gebiet, daß 
z. B. die vollziehende Gewalt (Monarch und Verwaltungsbehörden) nicht dem Richter in den 
Arm fallen oder, nach der anderen Seite ihre Macht überschreitend, sich zum Gesetzgeber auf- 
werfen darf (Kabinettsjustiz, Aufhebung von Gesetzen im Verwaltungswege). 
Das Prinzip der Gewaltenteilung richtet seine Spitze vomehmlich gegen die zur Zeit 
Montesquieus auf dem Kontinent herrschende Staatsform: die absolute Monarchie, 
mit ihrer Konzentration aller Staatshoheitsrechte in der Person des Monarchen. Hatte dieses 
Regierungssystem die Freiheit der Individuen negiert, so sollte nun ein Fortschritt erzielt werden 
durch Negation der Negation: die absolute Monarchie sollte umgestaltet werden nach dem Richt- 
maß der Gewaltenteilung und so aus dem absoluten Staat der konstitutionelle, der
	        
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