Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

320 Flesch und Hiller. 
sich eine unbegrenzte Beherrschung desselben durch den anderen Vertragschließenden entwickelt. 
Nur ist es falsch, hierbei lediglich an den Arbeitsvertrag zu denken, durch den jemand seine ge- 
samten Arbeitskräfte einem anderen zur Verfügung stellt (der Beamte dem Staat, der 
Fabrikarbeiter dem Maschinenfabrikanten, das Dienstmädchen der Hausfrau). Indem die 
Sozialdemokratie diesen Fehler macht, gelangt sie dazu, den Arbeitsvertrag als solchen zur Ursache 
der sozialen Ubel zu machen, und konstruiert den angeblich unversöhnlichen Gegensatz zwischen 
dem Arbeiter und dem Arbeitgeber, dem Kapitalisten, dem Ausbeuter. Sie läßt hierbei außer 
Acht, daß es kaum jemand gibt, der nur Arbeiter, nicht auch Arbeitgeber ist; der nur Arbeits- 
verträge schließt, in denen er seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt und nicht auch solche, in 
denen er sich die Arbeitsleistung anderer dienstbar macht. Arbeitsverträge schließt ja nicht nur 
der Fabrikarbeiter mit dem Unternehmer, sondern auch der Fabrikant selbst mit denen, die 
ihm Bestellungen machen; der Handwerker mit seinen Kunden, der Privatlehrer mit dem Vater 
seines Schülers, der Arzt mit der Krankenkasse und mit den einzelnen Klienten, der Wirt und 
der Kleinkrämer mit den einzelnen Kunden. Der Unterschied ist nur, daß sie viele Arbeit- 
geber haben, von denen sie abhängig sind, während der Fabrikarbeiter, der Kommis, der 
technische Beamte usw. es nur mit einem zu tun hat. Der Unternehmer, die Handwerks- 
meister, die Lehrer so gut wie diejenigen, an die man gewöhnlich bei dem Wort Arbeiter 
denkt stellen einem anderen ihre Kraft zur Verfügung, um für die Leistung, zu der sie 
dieser andere veranlaßt, ein Entgelt zu erhalten, mittels dessen sie ihren Lebensbedarf 
ganz oder doch teilweise erwerben und, wenn möglich, ihren Besitz vermehren wollen. Und 
während diejenigen, die „vermögend“ genug sind, um die Gelegenheit zum Abschluß günstiger 
Arbeitsverträge abzuwarten, dieses Ziel leichter erreichen, müssen andere, die besitzlos sind, 
also nicht abwarten können, ungünstige Arbeitsverträge abschließen, geringen 
Lohn nehmen, zu Schleuderpreisen liefern, oder sie müssen Beschränkungen in ihrer persön- 
lichen Freiheit über sich ergehen lassen (z. B. bei Ausübung ihres Wahlrechts, bei Wahl der 
Gewerkschaft, der sie sich anschließen usw.), um nur nicht aus dem Arbeitsverhält- 
nis ausgeschlossen zu werden, die Kündigung zu erhalten, die Kunden zu verlieren. 
Nun gibt es freilich neben diesem regelmäßigen und häufigsten Fall der Leistung von Arbeit 
zum Zweck der Gewinnerzielung auch noch andere Arbeit, die unentgeltlich geleistet wird (im 
Ehrenamt) oder nicht auf Grund eines Arbeitsvertrags; sei es freiwillig auf Grund des Ehe- 
bundes oder der Familienzusammengehörigkeit, sei es gezwungen (Sträflingsarbeit, militärischer 
Dienst); und es gibt endlich auch Arbeit, die zwar gegen Entgelt, aber vielfach nicht wegen 
des Entgelts geleistet wird (die künstlerische und wissenschaftliche Arbeit). Diese Ausnahmen 
alle ändern aber nichts an dem regelmäßigen Sachverhalt, daß nämlich diemeiste Arbeit 
auf Grund eines Arbeitsvertrags geleistet wird, so daß geradezu die 
Existenz des Staates gefährdet ist, sowie Arbeitsverträge nicht geschlossen oder nicht ausgeführt 
werden können; und daß die meisten Arbeiter nur durch das Entgelt, das 
ihnen auf Grund des Arbeitsvertrags zusteht, sich undihre Familie 
erhalten können, also mit ihrer ganzen Existenz auf die ungestörte 
Möglichkeit des Abschlusses von Arbeitsverträgen und auf die 
Bedingungen dieser Verträge angewiesen sind. 
Die Aufgaben, die das Recht für den Arbeitsvertrag zu lösen hat, ergeben sich aus dieser 
seiner Bedeutung als Grundlage der gesamten Staatsordnung. Sie sind für alle und jede Art 
von Arbeitsverträgen wesentlich die gleichen und lassen sich kurz dahin zusammenfassen: 
1. Wie jedes andere Rechtsgeschäft, dürfen auch die Arbeitsverträge, die abgeschlossen 
werden sollen, keine Wirkungen äußern, durch die das öffentliche Interesse oder bestehende 
Rechte Dritter, Unbeteiligter, verletzt werden. 
2. Die Gebundenheit der Vertragschließenden, jene notwendige Folge des Arbeitsvertrags, 
darf nur so weit gehen, als es die Verfolgung der Zwecke, welche jede der Parteien durch den 
Arbeitsvertrag erreichen will, fordert; nicht aber so weit, daß sie einen der Vertragschließenden 
der schrankenlosen Gewalt des anderen unterwirft und an Erfüllung seiner Aufgaben im Staat und 
als Familienvater hindert. 
3. Das Entgelt desjenigen Vertragschließenden, der seine Arbeitskraft zur Verfügung 
stellt, muß ausreichen, um unter gewöhnlichen Verhältnissen und unter Berücksichtigung der
	        
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