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der andere das angemessene Entgelt erhält, liegt der Hauptsache nach noch außer Bereich des
Arbeitsrechts. Dies begnügt sich damit, gewisse Verträge über manche Arbeitsleistungen für
rechtlich unbeachtlich oder auch für strafbar zu erklären, und gewisse Arbeitsmethoden oder die
Anwendung gewisser Arbeitsstoffe zu verbieten. Insbesondere hat sich das Arbeitsrecht bis in die
neueste Zeit nur wenig darum bekümmert, ob das Entgeld, welches der Arbeitende erhält,
der Arbeitslohn, hinreicht, damit der Arbeitsvertrag seine Aufgabe erfüllen kann. Der Lohn
muß den Arbeiter ernähren, auch wenn die Arbeit unterbrochen wird. Er brauchte aber bis
vor 30 Jahren nur gezahlt zu werden, so lange der Arbeiter arbeitete, oder durch Schuld des
Arbeitgebers an der Arbeit gehindert war. Erst durch die Zwangsversicherung (Kranken-,
Unfall-, Invaliditätsversicherung) ist der Lohn wenigstens für einzelne Fälle der Arbeitsstockung
und für einzelne Arten derjenigen Arbeitsverträge reguliert worden, welche die gesamte
Arbeitskraft des Arbeitenden in Anspruch nehmen. Die Krankenversicherungsgesetze, die Unfall-
versicherung, die Invalidenversicherung sind Lohnregulierungsgesetze.
Für andere, gleichfalls unfreiwillige Unterbrechungen der Arbeit (z. B. infolge von
mangelnder Arbeitsgelegenheit) und für viele gleichfalls wichtige Arbeitsverträge — insbesondere
derjenigen Arbeiter, die mit vielen Auftraggebern gleichzeitig Verträge schließen (Handwerker,
Arzte usw.) — hat eine solche Regulierung des Arbeitslohns noch (genauer: Erstreckung
des Arbeitseinkommens auf Zeiträume, in denen nicht gearbeitet wird) nicht stattgefunden.
Fast noch wichtiger ist freilich, daß der Arbeitsvertrag dem Arbeiter, der Familien-
vorstand ist, nicht die Möglichkeit gibt, den hierdurch gesteigerten Bedürfnissen entsprechend,
sich gesteigerte Mittel zu schaffen. In Ausnahmefällen wird der Arbeitgeber dies freiwillig
beachten (gesteigerter Wohnungsgeldzuschuß der verheirateten Beamten, Wohlfahrtseinrich-
tungen in manchen Fabriken). In der Regel aber — d. h. überall, wo solche besondere, den
Verheirateten zugute kommenden Einrichtungen nicht bestehen —, wird das Familienleben
und die Erziehung der künftigen Staatsbürger wesentlich erschwert sein, solange nicht ent-
weder der Arbeitsvertrag als Mittel zum Unterhalt der Unvermögenden aufgegeben ist
(Sozialismus) oder der Arbeitsvertrag korrigiert, d. h. durch öffentlichrechtliche Ein-
richtungen ergänzt wird, die den Familienvorständen zugute kommen. Die Keime dieser Ein-
richtungen (Unentgeltlichkeit des Schulunterrichts, der Lehrmittel, des Begräbnisses, Schul-
frühstück, Mutterschaftsversicherung, Ferienkolonien usfw.) sind heute in der Armenpflege und
in der wohltätigen und gemeinnützigen Tätigkeit vorhanden; ihre systematische Durchführung
wird ihre prinzipielle Verschiedenheit von der Armenpflege, und ihre Zugehörigkeit zum
Arbeitsrecht im weiteren Sinne erkennen lassen.
4. Die Auflösung des Arbeitsvertrags kann die eingreifendsten Folgen für die Vertrag-
schließenden, für Staat und Gesellschaft haben. Der Arbeiter, den ein Riesenbetrieb entläßt,
oder dessen Arbeitgeber einem entsprechend starken Trust angehören, oder in einer entsprechend
starken Organisation vereinigt sind, kann durch die Entlassung heimatlos, zur Auswanderung ge-
zwungen werden. (So ein Arbeiter, der sich beim Bund der Metallindustriellen mißliebig macht;
ein Wirt, den seine sozialdemokratische oder strengkatholische Arbeiterkundschaft verläßt.) Die
Hausfrau, der die Dienstboten entlaufen, der Kranke, den der Arzt, der Wirt, den die Kellner
plötzlich im Stich lassen, kann dadurch den schwersten Schaden erleiden. Jede dem Schutz der
Arbeitswilligen gewidmete Maßregel muß die Leute, die auf diese Art oder infolge einer Aus-
sperrung brotlos und existenzlos werden, ebenso berücksichtigen, wie die durch einen Streik am
Arbeiten verhinderten „Arbeitswilligen“. Die bloße Drohung mit der gleichzeitigen Auflösung
vieler Arbeitsverträge (durch Streiks oder Aussperrung) kann die persönliche Freiheit aller
derer, die hierdurch betroffen werden, und die mit dem Arbeitsverhältnis an sich vielfach gar
nichts zu tun haben, geradezu aufheben; die Durchführumg der Drohung kann die direkte Lebens-
gefährdung vieler Tausende, den Ruin von Handel und Verkehr, die Schwächung des Staats
bedeuten.
Die Möglichkeit, eine solche Schädigung des Staats oder eine solche Gefährdung einer
unbestimmten Anzahl an den betreffenden Arbeitsverhältnissen ganz unbeteiligter Personen
herbeizuführen, wird häufig als „Streikrecht“ oder als das „Recht des Arbeitgebers, Herr im
Hause zu bleiben“, bezeichnet. Arbeiter und Arbeitgeber sind sehr bereit, jede Beschränkung
dieser Möglichkeit durch staatliche Maßnahmen (Schutz des Lebensmitteltransports beim Streik