30 G. Anschütz.
(1900) 179 ff. Aus Lamprechts Deutscher Geschichte vgl. insbesondere 1 1—26, 122 ff.,
268 Il 129 ff., 2 121 ff., 168 ff., 240 ff., 3 103 ff., 119 ff., 253—293, 4 304 ff., 51 24 ff.,
5 465 ff.
Für jede der Nationen Europas bedeutet die politische Einheit das Ziel und den Sieges-
preis langer Kämpfe; am längsten aber und schwersten haben wir Deutschen um das höchste
Gut, den nationalen Staat, ringen müssen. Gewiß ist es in diesem Betracht richtig, wenn man
hervorhebt, daß die deutsche Nation von allen großen Völkern unseres Erdteiles das jüngste
sei, — anders gesehen sind wir freilich das älteste. Denr lange, ehe die andem, Franzosen und
Engländer, Spanier, Italiener usw. und ihre Staaten waren, keimte ein deutsches National-
bewußtsein, waren unsere Altvordern in diesem Sinne eine Nation. Dem Römer schon trat
dies Einheitsbewußtsein deutlich entgegen, nach der Denkart eines noch im Kindesalter stehenden
Volkes gekleidet in das Gewand einer Abstammungssage: die Deutschen fühlen sich eins in dem
Glauben, eines gottentsprossenen Vaters Söhne zu sein. Ein alldeutsches Gemeingefühl, ein
so zu nennendes Nationalbewußtsein war also, in des Tacitus Tagen, schon da. Aber es war
— ein Charakterfehler, welcher der deutschen Staatsgeschichte in alter und neuer Zeit so viele
tragische Wendungen gegeben hat — nicht politisch gefärbt. Ein Nationalbewußtsein ohne
politische Energie, unkräftig, den nationalen Staat zu schaffen. Die staatsbildenden Kräfte
des Volkes betätigten sich nur in engen und engsten Kreisen, beschränkten sich auf die Gründung
von Gemeinwesen, die nur Splitter der Gesamtheit umfaßten. Die Forderung eines Staates
für das ganze Volk lag jenseits des Gesichtskreises des ältesten deutschen Nationalbewußtseins,
und nicht nur des ältesten. Hat doch noch in Zeiten, die unserer Gegenwart nicht fem liegen,
das Empfinden vieler, der meisten sich damit begnügt, in dem großen Vaterland eine Sage, in
der nationalen Einheit einen Traum zu sehen, an „Deutschland“ den Wert eines geographischen
Begriffs zu besitzen.
Am Anfang war der Partikularismus. Die Deutschen treten in die Geschichte ein, zer-
spalten in eine Unzahl kleiner Völkerschaften, deren jede eine oberste politische Einheit, einen
„Staat“ also, den Staat der deutschen Urzeit, darstellt. Seit dem zweiten Jahrhundert unserer
Zeitrechnung sehen wir dann diese Urstaaten gruppenweise zu größeren politischen Verbänden
sich zusammenballen, es entstehen die deutschen Stämme und ihre Staaten. Außerlich eine
Vereinfachung des ältesten Partikularismus, war diese Bildung der Stämme und Stammes-
staaten (Stammesherzogtümer des Mittelalters) doch nichts weniger als ein Fortschritt in der
Richtung nationaler Konsolidation und Einheit; gerade wegen ihrer starken Volkszahl und Aus-
breitung sind diese Stämme kräftige Träger partikularen Sonderbewußtseins, trotziger Selbst-
genugsamkeit, also schwer zu überwindende Widerstände für die nationale Entwicklung. Wie
die Entstehung der Stammesstaaten, so war auch ihre Eingliederung in das aus dem stärksten
unter ihnen hervorgegangene fränkische Reich, dann das deutsche Reich des Mittelalters der
Erziehung des Volkes zur Nation nicht förderlich, eher hinderlich. Das fränkische Reich war eine
ebenso großartige, wie über- und daher widernationale Staatsbildung: in seiner Vollendung
unter Karl dem Großen eine germanisch-romanische Weltmonarchie, die freilich alle deutschen
Stämme unter dem Zepter des Frankenkönigs vereinte, jeden von ihnen aber nach seinem
Sonderrechte leben und ihn nicht als eines deutsch-nationalen, sondern eines kosmopolitischen
Staates Glied erscheinen läßt.
Die Enkel des Großen Karl teilen sein Reich. Und damit scheint die Stunde gekommen,
die den Gedanken eines Staatswesens, welches alle Deutschen und nur sie aufnimmt, eine erste
Verwirklichung bringt. Denn die Teilung war eine solche nach Nationalität und Sprache, die
karolingische Universalmonarchie zerklafft in eine westliche, gallisch-romanische und eine östliche,
deutsche Hälfte; die letztere, alsbald das Reich der Deutschen genannt, ist in der Tat ein solches,
soferm es alle noch vorhandenen reindeutschen Stämme unter einem nationalen Königtum ver-
einigt. Doch ist diese Zusammenfügung der Stammesherzogtümer im Reich des 10.—13. Jahr-
hunderts nur eine äußerliche, lose gewesen, eine Einheit, welche gegen den zentrifugalen Druck
des Stammespartikularismus immer nur zeitweise in ihren Fugen gehalten werden konnte
durch die eiserne Tatkraft gewaltiger Herrscher auf dem Königsthron: Heinrich und Otto I.,
Heinrich III., Friedrich I. Es ist das große, oft gewürdigte Verdienst dieser und anderer Ver-
treter unseres alten Königtums gewesen, daß sie den in allen Zeiten deutscher Staatsbildung