Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 33 
des Volles als ein neuer Faktor in das Getriebe der nationalen Staatsentwicklung ein. Den 
preußischen Staat aber weist die Begrenzung, welche die Verträge von 1815 ihm gaben, gleichsam 
gebieterisch auf seinen deutschen Beruf hin. Freundliche Mächte waren es nicht, denen Preußen 
auf dem Wiener Kongreß sich fügen mußte, die ihm die vom äußersten Osten bis zum femsten 
Westen deutschen Landes sich streckende, aber schmale, zerrissene Gestalt, die langen, schwer zu 
verteidigenden Grenzen gaben. Dennoch: — UÜbles wollend, haben diese Mächte wider Willen 
nationale Arbeit verrichtet, Gutes geschaffen. Einmal nahmen sie Preußen undeutschen — pol- 
nischen — Besitz und gaben ihm dafür deutschen; damit war der Staat Friedrichs des Großen 
„wieder in Deutschland hineingewachsen“", — in schroffem Gegensatz zu der österreichischen 
Monarchie mit ihrer zu drei Vierteilen nichtdeutschen Bevölkerung und ihrer denationalisierten 
Dynastie. Sodann: die Grenzen von 1815 haben Preußen gezwungen, im Interesse seiner 
eigenen Landesverteidigung zugleich ganz Norddeutschland zu schirmen gegen Angriffe von 
Westen, Osten, Norden; sie haben diesen Staat auch sonst vor die ganz unpartikularistische, 
nationale Aufgabe gestellt, die stärksten territorialen und landsmannschaftlichen Gegensätze zu 
überwinden, welche in Deutschland überhaupt bestehen. So war Preußen der einzige Staat, 
welcher, sich selbst nur lebend, gesamtdeutsch sein konnte, sein mußte: was Preußen gewann, 
kam Deutschland zugute, und die Tatsache, daß Preußen die Pflichten der nationalen Gesamt- 
heit auf sich nahm, mußte, nicht sowohl nach der Gerechtigkeit, als nach der Notwendigkeit 
politischen Werdens schließlich doch einmal mit dem Gewinn der Vorherrschaft, der Führerschaft 
zum Ziel der nationalen Einheit sich bezahlt machen. Und so ist es gekommen: nachdem zwischen 
den Trägern des deutschen Dualismus, Preußen und Osterreich, das Schwert entschieden hat, 
ist das außerösterreichische Deutschland, durch einmütiges Zusammenwirken aller deutschen 
Partikularstaaten unter Preußens Führung, gestützt auf das Nationalgefühl des ganzen Volkes, 
im Reiche neu geeint worden. In einem gewaltigen, tausendjährigen Staatsbildungsprozeß 
ist so das Urteil gefunden worden, gefunden und gesprochen nach alter deutscher Art, durch 
Führer und Volk. Eines langen Weges Endziel ist erreicht; das Endziel heißt: Bundes- 
staat. Es ist die nationale Staatseinheit in bündischen Formen: die Einheit, in welcher der 
nationale und der partikulare Staatsgedanke, Gemeinsamkeit und Besonderheit, die großen 
Gegensätze deutscher Vergangenheit sich versöhnend zusammenfinden. 
§ 5. Die deutschen Staatenbünde des 19. Jahrhunderts. 1. Die Auflösung 
des alten Reiches und der Rheinbund. 1 
Das Zeitalter der beiden deutschen Staatenbünde, des Rheinbundes und des Deutschen 
Bundes, reicht vom Untergang des alten Reiches, 1806, bis zu der Zersprengung des Deutschen 
Bundes und den unmittelbar an letzteren Vorgang sich anreihenden kriegerischen Ereignissen 
von 1866, welche die Gründung des Norddeutschen Bundes (1867] und damit die Neugestaltung 
Deutschlands auf der heutigen, bundesstaatlichen Grundlage vorbereiteten. Es handelt sich 
also um eine Zeitstrecke von 60 Jahren, charakterisiert durch das völlige Fehlen einer staat- 
lichen Zusammenfassung Deutschlands Die Partikularstaatsgewalten steigen durch den 
Wegfall der alten Reichsgewalt zur vollen, materiellen und formellen Souveränetät empor, 
eine sie überragende nationale Staatsgewalt wird zunächst nicht wieder geschaffen, lediglich 
durch ein völkerrechtliches, vertragsmäßiges Band werden die Glieder des deutschen Gesamt- 
körpers zusammengehalten. Staat und Staatsgewalt erscheinen von 1806—1867 in Deutsch- 
land nur als partikulare, nicht als nationale Einrichtungen, es ist die Zeit höchster möglicher 
Vollendung der partikularen Staatsidee, ebendeshalb für die innere Verfassungsgeschichte der 
deutschen Einzelstaaten (s. § 7) von größter Bedeutung; — vom Standpunkte der nationalen 
Staatsbildung aus gesehen nicht mehr als eine Durchgangsstufe und Episode, welche die zwei 
Zeitalter, in denen Deutschland ein Staat gewesen war und wieder einer geworden ist, das 
Jahrtausend des alten und die Ara des neuen Reichs so trennt wie verbindet. 
  
1 Häusser, Deutsche Geschichte 2 682 ff., 3; v. Treitschke, Deutsche Geschichte 
1 231 ff. Die Urkunden bei G. v. Meyer, corp. inr. confoed. german. I. Die Rheinbundakte 
auch bei Binding, Deutsche Staatsgrundgesetze, Heft 3. 
Enzyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band IV. 3
	        
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