Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

38 G. Anschütz. 
per maiora. Von diesem Typus wich der Bundestag — unbeschadet des durch B.A. Art. 3 
und S.A. Art. 2 ausgesprochenen Grundsatzes der Gleichberechtigung aller Bundesstaaten — 
insoferm ab, als seine Stimmordnung einmal das Mehrheitsprinzip bis zu einem gewissen Grade 
zur Geltung brachte, außerdem aber eine Abstufung des Stimmgewichts nach Größe und Volks- 
zahl der einzelnen Staaten durchgeführt war. Der Abstufung lagen zwei nebeneinander an- 
gewandte Systeme zugrunde, deren Gegensatz zugleich das Unterscheidungsmerkmal abgab für 
die beiden Verhandlungs= und Beschlußfassungsformen der Bundesversammlung: den „engeren 
Rat" (S. A. Art. 11, B.A. Art. 4) und das „Plenum“. Der Unterschied der beiden Formationen 
war nicht etwa, wie die Termin ologie anzudeuten scheint, der, daß der engere Rat einen Aus- 
schuß, eine ständige Deputation des Plenums gebildet hätte, vielmehr lag in dem einen und 
dem andem Falle nur die verschieden gestaltete Abstimmungsordnung einer und derselben Ver- 
sammlung vor: im „engeren Rat“ war das Stimmgewicht der Bundesglieder nach dem System 
der Viril= und Kuriatstimmen, im „Plenum“ dagegen nach dem der Pluralitätsvoten abgestuft. 
Der engere Rat war (S.A. Art. 11) die regelmäßige Form der Verhandlung und Be- 
schlußfassung, er zählte 17 Stimmen, wovon 11 Virilstimmen der größten und mittleren (Oster- 
reich, Preußen, die anderm Königreiche, Baden, beide Hessen, Holstein, Luxemburg) und 6 Kuriat- 
stimmen der kleinen Staaten. Nur in den durch die B.A. und S.A. ausdrücklich bezeichneten 
Fällen (B. A. Art. 6, S. A. Art. 12: Abänderung der Grundverträgc, organische Einrichtungen 
und gemeinnützige Anordnungen sonstiger Art, Kriegserklärungen und Friedensschlüsse namens 
des Bundes, Aufnahmen neuer Mitglieder in den Bund) trat die Formation des „Plenums“ 
ein, deren 69 Stimmen so verteilt warer, daß die kleinen Staaten je eine, die mittleren und 
großen dagegen eine Pluralitätsstimme, d. h. eine Mehrheit von Stimmen — 2, 3 oder 
höchstens 4 — abzugeben hatten. Im engeren Rat wie im Plenum galt sormell grundsätzlich 
das Mcohrheitsprinzip (engerer Rat: einfache, Plenum: Zweidrittelmehrheit; S. A. Art. 11, 12), 
doch war diese Regel in zahlreichen und wichtigen Fällen durch das ausdrücklich vorgeschriebene 
Erfordernis der Einstimmigkeit durchbrochen. Nur einstimmig konnten nämlich Be- 
schlüsse gefaßt werden über folgende Gegenstände (S.A. Art. 13): 1. Annahme neuer „Grund- 
gesetze“ (d. h. Grundverträge) oder Abänderung der bestehenden, 2. organische Einrichtungen, 
„d. h. bleibende Anstalten als Mittel zur Erfüllung der ausgesprochenen Bundeszwecke, 3. Auf- 
nahme neuer Mitglieder in den Bund, 4. Religionsangelegenheiten (geschichtliche Reminiszenz; 
vgl. die Behandlung der Religionsangelegenheiten im alten Reichstage seit dem westfälischen 
Frieden (s. oben Bd. 1 S. 167), 5. alle Fälle, „wo die Bundesglieder nicht in ihrer vertragsmäßigen 
Einheit, sondem als einzelne, selbständige und unabhängige Staaten erscheinen, folglich iura 
singulorum obwalten" (S.A. Art. 15). Alle diese Gegenstände, mit Ausnahme der Religions- 
angelegenheiten, gehörten zur Zuständigkeit des Plenums. 
Dem staatenbündischen, d. h. völkerrechtlichen Charakter des Deutschen Bundes entsprach 
es, daß die Beschlüsse des Bundestags nur die Bundesglieder, die Regierungen der einzelnen 
Staaten, nicht aber deren Untertanen berechtigten und verpflichteten: Bundcsbeschlüsse wie 
der vom 20. September 1819 über die Verschärfung der Druckschriftenzensur oder der vom 
5. Juli 1832 über das Verbot politischer Vereine konnten für die Untertanen der Bundes- 
staaten nur dadurch geltendes Recht werden, daß die Regierungen sie als landesrechtliche 
Normen einführten. Die Einführung und Durchführung der Bundesbeschlüsse war für 
jede Regierung Bundespflicht, deren Erfüllung im Wege der Bundesexekution erzwungen 
werden konnte. Ob in den konstitutionellen Bundesstaaten die Einführung der Zustimmung 
des Landtags bedurfte oder ohne dieselbe durch die Regierung allein geschehen konnte, 
entschied sich nach Landesstaatsrecht; manche Verfassungen, wie z. B. die badische vom 22. August 
1818, § 2, erteilten dem Landesherrn eine allgemeine Ermächtigung, alle das Land betreffenden 
Bundesbeschlüsse im Verordnungswege einzuführen. 
Ein Eingreifen des Bundes in die inneren Verhältnisse der Staaten war nach der wieder- 
holt hervorgehobenen rechtlichen Natur des Bundes grundsätzlich ausgeschlossen (S.A. Art. 32), 
zugelassen jedoch in dem Falle der „Widersetzlichkeit der Untertanen gegen die Obrigkeit“ und 
hieraus entspringender Gefährdung der Sicherheit von Staat und Bund (S.MA. Art. 26—298). 
Die solchergestalt zugelassene Bundesintewention hatte jedoch nicht den Charakter eines mit 
dem Charakter des Bundes unverträglichen Eingriffs in die inneren staatlichen Hoheitsrechte
	        
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