Deutsches Staatsrecht. 39
der Justiz und Polizei, als vielmehr eines — von der betreffenden Regierung selbst begehrten
oder bundesseitig als begehrt vorausgesetzten — Schutzes jener und aller anderen Hoheits-
rechte (eine im voraus erbetene und bewilligte Kollektivintervention fremder Mächte).
§ 7. Die Verfassungsentwicklung der deutschen Staaten zur Bundeszeit.
I. Einleitung. — Mit der Auflösung des alten Reiches und der großen Mediatisierung
und Sakularisierung, welche Hunderten seiner halb= und ganzmittelalterlichen Staatsgebilde
ein Ende machte; mit der Gründung des Rheinbundes und der durch sie vermittelten Ver-
breitung der Ideen der französischen Revolution und ihres Erben zunächst in Süd= und West-
deutschland; — mit dem Zusammenbruch Preußens 1806 und der darauffolgenden Regeneration
dieses Staates auf modemer Grundlage; — mit all diesen Ereignissen, welche das erste Jahr-
zehnt des 19. Jahrhunderts erfüllen, zieht für Deutschland eine neue Zeit herauf. Die Reste
des Mittelalters, die sozialen wie die politischen, welche auch der sonst „aufgeklärte“ Absolu-
tismus des 18. Jahrhunderts noch hatte stehen lassen, beginnen zu schwinden; eine neue Gesell-
schaft entsteht und ein neues Staatsrecht. Hier darf nur das staatsrechtlich Neue inter-
essieren: es ist der Ubergang der deutschen Einzelstaaten inihrer weit-
aus überwiegenden Mehrheit zur konstitutionellen Verfassungs-
form, vollzogen im zweiten bis fünften Jahrzehnt des Jahrhunderts. Doch sei zuvor auch
erinnert an die so zialen Wandlungen, — Umgestaltungen, welche die Verwirklichung des
konstitutionellen Staatsgedankens teils einleiteten, teils begleiteten.
Im 18. Jahrhundert und in den ersten Zeiten des 19. hatte die geburtsständische Gesell-
schaftsordnung des Mittelalters noch allenthalben in Deutschland aufrecht gestanden. Die
Untertanen der deutschen Landesqerrn gliedern sich überall in die drei historischen Geburts-
stände des Adels, der Bürger, der Bauern: soziale Klassen, die sich schroff gegeneinander
abschließen, zugleich Berufe, in welche der einzelne hineingeboren wird, die er nicht nach Be-
lieben wählen noch wechseln darf. Der Absolutismus des 18. Jahrhunderts hatte an diesen
Dingen im allgemeinen nichts geändert, bestand doch seine Eigenart gerade in einer kom-
promissarischen Vermittlung zwischen Mittelalter und Neuzeit: er hatte den modernen Staats-
gedanken mit seiner Konzentration aller Herrschermacht in der einen, unteilbaren, souveränen
Staatsgewalt verwirklicht, dabei aber der Idee eines allgemeinen, gleichen Staatsbürgertums
noch nicht Raum gegeben, die überlieferten ständischen Gliederungen und Scheidungen viel-
mehr bestehen lassen. So zeigte insbesondere die größte gesetzgeberische Tat des preußi-
schen ancien régime, das Allgemeine Landrecht von 1794, die rückwärts und vorwärts schauende
Physiognomie, den „Januskopf“ seiner Epoche: auf der einen Seite klarste Erfassung des
modernen Staatsgedankens (s. oben S. 9 Anm. 1), auf der andern sorgsame Bewahrung
der geschichtlichen Sonderrechte eines jeden der drei Geburtsstände: T. II Tit. 7 ALR.: „vom
Bauemstande"“, Tit. 8: „vom Bürgerstande", Tit. 9: „von den Pflichten und Rechten des
Adelstandes“. Alles historisch Gewordene war hier aufrecht erhalten: die sozialen und öffentlich-
rechtlichen Privilegien der Ritterschaft, die wirtschaftlichen, insbesondere gewerblichen Monopole
der Städte und ihres Bürgertums, die Unfreiheit der Bauern. — Dieser Bau der geburts-
ständischen Gesellschaftsordnung hatte nun schon lange gewankt, als er, in Frankreich kurz vor,
in Deutschland kurz nach der Wende des 19. Jahrhunderts in sich zusammenstürzte. Die alte
ständische Gesellschaft geht unter, an ihre Stelle tritt die bürgerliche Gesellschaft
des 19. Jahrhunderts, beruhend auf dem Gedanken der allgemeinen Rechtsgleichheit, der
Nivellierung der Standesvorrechte, der freien Berufswahl, — die bürgerliche Gesellschaft, die
ihren Namen entlehnte von dem schon langeher kräftig ausstrebenden zweiten der alten
Geburtsstände, dem Bürgertum: einer wohlhabenden und gebildeten Mittelklasse, die den Beruf
in sich fühlte, die anderen Geburtsstände zu absorbieren, die geistige und wirtschaftliche Führung
der Gesamtheit zu übernehmen. Im Zuge dieser Entwicklung werden die geburtsständischen
Schranken niedergelegt: in Frankreich durch die Revolution und ihre gesetzgeberischen Gewalt-
taten, im Süden und Westen Deutschlands durch die französierende Landesgesetzgebung der
Rheinbundepoche, in Preußen aber durch die große Sozial- und Wirtschaftsreform der Jahre
1807 bis 1811, mit welcher die Namen ihrer Urheber und Leiter, Stein und Hardenberg, un-