428 G. Strutz.
I. Das Abgabenrecht des Deutschen Reiches.
§ 2. Die Zusammensetzung des Reichssteuersystems. Selbst dann, wenn die mehreren
politischen Körper, deren Steuergewalt sich ganz oder teilweise auf dieselben Wirtschaften und
wirtschaftlichen Vorgänge erstreckt, sormell in der Ausübung ihrer Steuergewalt voneinander
unabhängig sind, muß doch wegen der wirtschaftlichen Wirkungen der Steuern auf die mit
ihnen belasteten Wirtschaften tatsächlich jeder solche Körper auf die Steuerverfassung der andern
Rücksicht nehmen. Jedes Neben= oder Ubereinanderbestehen ganz oder teilweise auf derselben
territorialen Grundlage beruhender politischer Körper enthält daher für jeden von ihnen eine,
wenn nicht rechtliche, so doch tatsächliche Einschränkung seines Steuerrechts. Jeder von ihnen
hat deshalb ein starkes Interesse daran, daß der andere von seiner Steuergewalt einen tunlichst
beschränkten und ihn in seiner eigenen Steuerpolitik möglichst wenig behindernden und störenden
Gebrauch macht, und es muß jeder von ihnen den Wunsch haben, soweit angängig, Garantien
gegen die Finanzen des Gemeinwesens wie die Wirtschaft der Steuerpflichtigen schädigende
Kollisionen der Steuersysteme, d. i. der Art und Ausgestaltung der einzelnen Steuern, zu er-
halten. Auf dem Gebiet der Gebühren und Beiträge sind solche besonderer Vorkehrungen be-
dürfende Kollisionen deshalb weniger zu besorgen, weil hier vermöge ihres Charakters als spezi-
eller Entgelte für Leistungen des Gemeinwesens die Belastung derselben Wirtschaft durch mehrere
abgabeberechtigte Gemeinwesen aus Anlaß derselben Leistung eines solchen der Regel nach
von vornherein ausgeschlossen erscheint; wollte ein Gemeinwesen die Leistung eines andern
zugunsten einer auch seiner Abgabegewalt unterliegenden Wirtschaft zum Anlaß nehmen, auch
seinerseits hierfür eine Abgabe zu fordern, so wäre das jedenfalls ein flagranter Widerspruch
gegen das Wesen der Gebühr und des Beitrags und die Abgabe ihrem Wesen nach nichts anderes
wie eine Steuer.
Den kommunalen Verbänden gegenüber, die ihr Besteuerungsrecht von ihm ableiten, ist
der Staat unbeschränkt in der Lage, sich die ihm nötig erscheinenden Kautelen gegen über das
ihm erträglich dünkende Maß hinausgehende Beeinträchtigungen seines eigenen Steuerwesens
durch dasjenige jener zu schaffen. Anders und ungünstiger ist seine Lage einem Bundesstaate
gegenüber, dem er als Gliedstaat angehört, wenn die Verfassung des Bundesstaates wie die des
Deutschen Reiches (Art. 2) den Grundsatz enthält, daß dessen Gesetze denen der Gliedstaaten.
vorgehen. Denn ob in solchem Falle der Einzelstaat eine der seinigen abträgliche Steuergesetz-
gebung des Bundesstaates durch seinen Widerspruch zu hindern vermag, hängt bei einer Ver-
fassung wie der des Reiches von der Zahl der verfassungsmäßigen Stimmen ab, über die er
und die ihm etwa beipflichtenden andern Gliedstaaten in der Vertretung der verbündeten Re-
gierungen verfügen, ist also immer unsicher. Die Einzelstaaten eines Bundesstaates können
eine relative Sicherheit gegen eine ihre Interessen verletzende Ausdehnung der Steuergewalt
des letztern nur erhalten, wenn der Umfang dieser Steuergewalt durch die Bundesverfassung be-
grenzt wird und Abänderungen der Bundesverfassung nicht durch bloße Mehrheitsbeschlüsse
der gesetzgebenden Faktoren des Bundesstaates herbeigeführt werden können. Eine Sicherung
der letztern Art enthält zwar Art. 78 der Reichsverfassung, wonach Verfassungsänderungen
schon an dem Widerspruch von 14 der 58 Bundesratsstimmen scheiternm. Es war auch ursprüng-
lich, bei Errichtung des norddeutschen Bundes, die Absicht, dessen Steuerwesen durch die Ver-
fassung auf die in dieser bezeichneten Steuerarten zu beschränken, so daß die Erstreckung auf
weitere nur im Wege der Verfassungsänderung hätte erfolgen können. An dieser Absicht ist
aber weder in der Verfassung des Norddeutschen Bundes noch in der des Reiches festgehalten
worden 1. Im Gegenteil, indem der Art. 35 der Reichsverfassung die „Gesetzgebung über das
gesamte Zollwesen, über die Besteuerung des im Bundesgebiete gewonnenen Salzes und Tabaks,
bereiteten Branntweins und Bieres und aus Rüben oder anderen inländischen Erzeugnissen
dargestellten Zuckers und Sirups“ „ausschließlich“ dem Reiche zuweist, wird wohl dieses
gegen eine Beeinträchtigung durch die einzelstaatliche Gesetzgebung bezüglich der Zölle und
hier aufgeführten Verbrauchssteuern sichergestellt, aber nicht zum Ausdruck gebracht, daß das
Reich sich, solange nicht seine Verfassung geändert wird, auf diese Abgaben beschränken müsse.
1 Vgl. Laband, „Direkte Reichssteuern“ (Berlin 1908) S. 6 ff.