Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

40 G. Anschütz. 
zertrennlich verbunden sind. Überall setzt sich Befreiung des Individuums durch, und 
zwar eine Entfesselung nicht nur von den Banden der geburtsständischen Gesellschaftsgliederung, 
sondern auch von der Bevormundung durch weltliche und kirchliche Obrigkeiten, von den Zwangs- 
rechten der ländlichen Grundherren und städtischen Zünfte und von anderen Mächten der 
Vergangenheit. Der sozialen Gleichheit soll die persönliche Freiheit sich hinzugesellen. Und 
alsbald greift die Entwicklung weiter aus: die befreite Gesellschaft begnügt sich richt mit der 
bürgerlichen Freiheit, der Freiheit der Person, des Eigentums und Erwerbs, — sie will 
mehr: staatsbürgerliche Freiheit, Anteilnahme an der Bildung des 
Staatswillens, kurz politische Macht. Und die Gedankenrichtung nun, welche es, schon 
lange vor Anbruch des 19. Jahrhunderts, unternommen hatte, die Forderungen der in der 
Bildung begriffenen bürgerlichen Gesellschaft wissenschaftlich zu sormulieren und in ein politisches 
System zu bringen, war die konstitutionelle Theorie. 
Unter dieser Theorie ist hier eine politische und rechtswissenschaftliche Gedankenbewegung 
verstanden, welche, anhebend im 17. Jahrhundert, bis tief in das 19. hinein sich erstreckt; als 
Vertreter seien genannt 1 die Engländer Algernon Sidney und John Locke (s. oben 
S. 27), die Franzosen Montesquieu — der größte und selbständigste Geist der ganzen 
Richtung (oben S. 27, 28) — de Lolme und Benjamin Constant, letzterer, vornehmlich 
im zweiten und dritten Dezennium des 19. Jahrhunderts publizistisch wirksam, gleichsam das 
geistige Verbindungsglied zwischen der älteren englisch-französischen und der etwa um 1830 
einsetzenden deutschen Theorie des Konstitutionalismus — v. Rotteck, Welcker, Dahl- 
mann u. a. —, welche letztere zugleich die Schlußphase der gesamten Bewegung darstellt, 
indem die konstitutionellen Forderungen allgemach, insbesondere um und seit 1848, von der 
Wirklichkeit der positiven, auch des deutschen Staatsrechts ausgenommen werden. 
Die konstitutionelle Theorie wurzelt in den politischen Gedankenkreisen des Natur- 
rechts. Und zwar entlehnt sie der naturrechtlichen Publizistik vor allem, als ihren Ausgangs- 
punkt, die demokratische Lehre von der Volkssouveränetät. Diese Lehre — über 
deren Ursprung, Entwicklung und Juhalt Gierke, Althusius S. 123 ff. eingehend berichtet — 
fundierte den Staat und die Staatsgewalt ganz und gar auf den Willen des Volkes, dieses 
seinerseits vorgestellt als eine Masse freier und untereinander rechtlich gleicher Individuen, deren 
jeweiliger Mehrheitswille als „allgemeiner Wille“ die höchste Gewalt im Staate ist. Die Lehre 
von der Souveränetät des Volkes hat sich seit dem 17. Jahyrhundert in zwei Richtungen ge- 
spalten. Die eine, radikaldemokratische, gipfelt in der politischen Doktrin J. J. Rousseaus, 
sie läßt schlechtweg keine andere Staatsform gelten als die unbeschränkte und reine Demokratie. 
Auf die deutsche Verfassungsentwicklung ist sie ohne Einfluß gewesen. Die andere der beiden 
Gedankenrichtungen aber, welche die ältere Volkssouveränetätslehre geschichtlich fortsetzen, ist 
die konstitutionelle Theorie. Sie charakterisiert sich nicht durch radikale Uberspannung, vielmehr 
durch Ermäßigung der demokratischen Prirzipien. Durch zwei mit der Volkssouveränetäts- 
lehre in Verbindung gebrachte Verfassungsgedanken wurde eine solche Ermäßigung erstrebt 
und erreicht: durch die Idee der gemischten Staatsform und durch die Teilung 
der Gewalten. 
Der erste dieser beiden Gedanken — vorzugsweise durch Nontesquien ausgestaltet 
und formuliert, aber schon vor ihm meyrsach erörtert — erblickt das politische Jdeal weder in 
der reinen Demokratie noch in der reinen, d. b. absoluten Monarchie, sondern in der Mischung 
beider Formen, einem zwischen dem zur Zeit Montesquieus auf dem Kontinent überall 
herrschenden monarchischen Absolutismus und den Postulaten der Volkssouveränetätslehre die 
Mitte haltenden Verfassungstypus. Dieser Typus soll hergestellt, die Mischung der Staats- 
formen erzielt werden durch den zweiten der beiden politischen Gedanken, durch die Teilung 
der Gewalten. Von letzterer war oben S. 27 ff. des näheren die Rede. Weder der 
1 Nähere Angaben literar= und dogmengeschichtlichen Inhalts u. a. bei Gierke, Althusius 
S. 186 ff.; Bornhak, Entwicklung der konstit. Theorie, Ztschr. f. d. ges. Staatswissenschaft 
Bd. 51 S. 597 ff.; Mecyer-Anschütz S. 132 ff.; Jellinek, Staatsl. S. 679 ff., 491 ff., 
508 ff.; Zweig, Die Lehre vom Pouvoir constituant, ein Beitrag zum Staatsrecht der franzö- 
sischen Revolution (1909); R. Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversamm- 
lung von 1789 (1912).
	        
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