Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

42 G. Anschütz. 
rufliche; ihr Inhalt und Richtmaß sind die Forderungen der konstitutionellen Theorie: Gewalten- 
teilung, Volksvertretung, Unabhängigkeit der Gerichte. Aber dies Richtmaß ist nur insoweit 
befolgt, als es verträglich erscheint mit der Beibehaltung der unverrückt monarchischen Grund- 
struktur des Staatsrechts. Das Prinzip der „Volkssouveränetät“ ist in die Charte nicht auf- 
genommen, vielmehr stillschweigend verworfen und der König zum Träger der Staatsgewalt 
(oben S. 25) erklärt. Konsequenz dieses Grundprinzips ist, daß die Ausübung der 
Staatsgewalt präsumtiv allein der Krone zusteht, Modifikation, daß die Krone in dieser 
Ausübung nach bestimmten Richtungen hin beschränkt, insbesondere durch den Satz beschränkt 
ist, daß sie die richterliche Gewalt gar nicht und die gesetzgebende nich“ allein, sondern nur in 
Gemeinschaft mit der Volksvertretung ausüben darf. 
Diese Grundstruktur der Charte von 1814, das sog. „nonarchisch-konstitu- 
tionelle Prinzip“ (Gegensatz: das demokratisch konstitutionelle Prinzip, französ. 
Verfass. v. 1791, belgische von 1831) war hier deshalb besonders heworzuheben, weil sie von 
maß= und richtunggebendem Einfluß gewesen ist auf die Gestaltung aller deutschen konstitu- 
tionellen Staatsgrundgesetze. Sie sämtlich, die süddeutschen Verfassungen wie die preußische, 
gestalten das Verhältnis von Krone und Volksvertretung ebenso wie die Charte von 1814, d. h. 
nach Masgabe nicht des demokratisch-konstitutionellen, sondern des monarchisch-konstitutionellen 
Prinzips. Die Annahme des konstitutionellen Systems hat für keinen der deutschen Staaten 
bedeutet, daß das Staatswesen grundsätzlich auf die Basis der „Volkssouveränctät"“ gestellt, 
daß eine vollkommene Neuverteilung der Gewalten vorgenommen und hierbei die Monarchie 
als Inhaber bestimmter Attributionen, insbesondere der „vollziehenden Gewalt“, beibehalten 
wurde, — sondemn das ist beabsichtigt und erreicht worden, der Krone nach wie vor die ge- 
samte Staatsgewalt quoad jus zu resewieren und sie quoad exereitium, in der Ausübung 
der Staatsgewalt, soweit zu beschränken, als die Verfassung dieses ausdrücklich vorschreibt. 
Die Abhängigkeit, aber auch die Abweichung des durch die Charte und die deutschen Ver- 
fassungen repräsentierten Versassungstypus von den Gedankengängen Montesquienus 
ist deutlich. Dieser Typus gibt den einen Leitsatz Montesquieus, die Lehre von der 
gemischten Staatsform, auf: er baut den konstitutionellen Staat auf, nichts als halbe 
Demokratie, sondern als ganze Monarchie. Das andere Gedankenelement 
der konstitutionellen Theorie dagegen, die Teilung der Gewalten, ist nicht ver- 
worfen, vielmehr adoptiert worden, nur freilich nicht derart, daß die gesetzgebende, vollziehende 
und richterliche Gewalt als drei Staaten im Staate, sondern so, daß sie als drei organisatorisch 
getrennte Grundfunktionen einer und derselben Gewalt, der Staatsgewalt erscheinen, welche 
theoretisch, dem „Rechte und der Innehabung nach“ wie zu Zeiten des Absolutismus in der 
Hand des Monarchen vereinigt ist und bleibt. — Auf dieser Stufe seiner Entwicklung ist der 
konstitutionelle Verfassungsgedanke in Deutschland ausgenommen worden. Und zwar zunächst 
in einer Gruppe deutscher Mittel= und Kleinstaaten. 
II. Die konstitutionelle Entwicklung in den deutschen Mittel= und Kleinstaaten bis 1818. — 
Die Frage der Einführung konstitutioneller Verfassungen in den deutschen Monarchien war 
in dem deutschen Komitee des Wiener Kongresses (oben S. 35) eingehend verhandelt worden. 
Ursprünglich hatte es im Planc gelegen, den Regierungen diese Anderung des Staatsrechts 
ihrer Länder zur Bundespflicht zu machen, jedoch kam schließlich, nicht zumindest infolge der 
sehwächlichen und von Selbstwidersprüchen nicht freien Haltung der preußischen Regierung, 
in den endgültigen Text der Bundesakte (Art. 13) die farblose Verheißung hinein: in allen Bundes- 
staaten wird eine landständische (d. h. repräsentative, konstitutionelle) Verfassung stattfinden. 
Hieran hält auch die Wiener Schlußakte, man möchte sagen, widerwillig, noch fest (SA. Art. 54), 
jedoch mit Vorbehalten, welche einmal betonen, daß auf die Einzelstaaten von Bundecs wegen 
keinerlei Zwang, dem Art. 13 BA. zu genügen, ausgeübt werden solle (SA. Art. 55), und welche 
andererseits eine Reihe bemerkenswerter Nornatwbestimmungen für die etwa einzuführenden 
„landständischen“ Verfassungen enthalten (a. a. O. Art. 57—59); in letzterer Beziehung wird 
den Bundesstaaten namentlich die Pflicht auferlegt, in ihren konstitutionellen Konzessionen 
nicht etwa den Boden des „monarchischen Prinzips“ zu verlassen. „Da der Deutsche Bund“, 
so sagt Art. 57 SA., „mit Ausnahme der Freien Städte aus souveränen Fürsten besteht, so muß 
dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge, die gesamte Staatsgewalt in
	        
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