Soziales Versicherungsrecht. 467
daß das soziale Versicherungsrecht als Ganzes dem öffentlichen Recht zuzuweisen
ist, weil es im Interesse des öffentlichen Wohles geschaffen ist. Die Ansprüche, welche den
Versicherten aus der Versicherung erwachsen, haben ihren Grund im öffentlichen Recht; die
Lasten, welche den beitragspflichtigen Personen auferlegt sind, sind öffentliche Lasten, und
ein Teil dieser Lasten (namentlich der Reichszuschuß auf dem Gebiete der Invaliden- und
Hinterbliebenenversicherung) wird sogar aus allgemeinen Mitteln des Reichs bestritten. Da
neben greifen die Vorschriften der sozialen Versicherung aber auch vielfach in andere Rechts-
gebiete über. So sind z. B. die Modifikationen des Schadensersatz= und Haftpflichtrechts durch
die §§ 898 ff., 1042, 1219 der RVO. zweifellos privatrechtlicher Natur. Neben dem Privat-
rechte kommt aber auch das Prozeßrecht, Strafrecht, Handelsrecht, ja, auch das Kirchenrecht 1
in Betracht. Eine Scheidung der verschiedenartigen Bestandteile ist jedoch unzweckmäßig, da
das soziale Versicherungsrecht, wenn seine Eigenart richtig verstanden werden soll, einheitlich
im Zusammenhange betrachtet werden muß.
Die weitere Frage geht dahin, ob das soziale Versicherungsrecht ein Versicherungs-
recht ist oder nicht. Hierauf ist zu erwidern, daß die soziale Versicherung nicht unter den Be-
griff der Versicherung in dem bisher gekannten Umfange fällt, da es an einem Versicherungs-
vertrage und namentlich an einem gegen seitigen Abhänoigkeitsverhält-
nisse zwischen der Leistung des einen Teils und der Gegenleistung des anderen Teils im
Sinne zweiseitiger privater Rechtsgeschäfte mangelt. Das rechtliche Verhältnis zwischen dem
Anspruch der Versicherten auf Leistung und dem Anspruch der Versicherungsträger auf die
Beiträge ist im Interesse der leichteren Durchführung der Gesetze von dem Gesetzgeber derartig
gestaltet worden, daß beide Ansprüche unabhängig voneinander gemacht worden sind. Die Kreise
der anspruchsberechtigten und der beitragspflichtigen Personen sind nicht die gleichen, und Ein-
reden des Trägers der Versicherung, welche aus dem Rechtsverhältnis zwischen ihm und dem
Beitragspflichtigen hergeleitet werden könnten (z. B. daß die Beiträge nicht oder nicht vollständig
entrichtet seien) sind dem Anspruchsberechtigten gegenüber regelmäßig ausgeschlossen. Beide
Schuldverhältnisse stehen selbständig nebeneinander. Es besteht auch kein klagbares Recht des
Versicherten gegen den Beitragspflichtigen dahin, daß dieser die Beiträge für die Versicherung
zahle. Kommt der Beitragspflichtige seinen Verbindlichkeiten nicht nach, so steht es dem Be-
rechtigten nur frei, diese Tatsache dem zuständigen Träger der Versicherung zur Kenntnis zu
bringen, welcher dann seinerseits mit den ihm zu Gebote stehenden Zwangsmitteln gegen den
säumigen Schuldner vorgehen kann. Auch ist das Rechtsverhältnis nicht in der Weise aus-
gestaltet, daß dem Beitragspflichtigen ein Rechtsanspruch gegen den Träger der Versicherung
auf Leistung an den Berechtigten gewährt wird; dieser ist vielmehr allein und unmittelbar an-
spruchsberechtigtes Subjekt.
Ist hiernach das soziale Versicherungsrecht nicht ein Versicherungsrecht in dem bisher
gekannten Sinne, so besteht doch kein zwingendes Hindernis, den Begriff der Versicherung zu
erweitern und auf das neue Recht anzuwenden. Die Verwandtschaft der sozialen Versicherung
als Ganzes genommen mit einer „Versicherung“ zeigt sich nicht nur in einer Sicherung, einem
securum kfacere der Versicherten, sondern auch in ihrem inneren Wesen und in ihrem wirtschaft-
lichen Zwecke. Denn das Wesen einer jeden Versicherung besteht in einer geordneten, nach
versicherungstechnischen Regeln erfolgenden Verteilung des dem einzelnen zugestoßenen
Schadens auf eine zu diesem Zwecke gebildete Gemeinschaft vieler einzelnen. Dies ist aber
auch bei der sozialen Versicherung der Fall. Die Kosten dieser Versicherung werden — ab-
gesehen von dem Reichszuschuß — im Prinzip von denen aufgebracht, die an der Versicherung
interessiert sind.
Breslau 1896; Schmoller, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1904, II 348,
806; Zorn, Reichsstaatsrecht, 2. Aufl. (1897), II 179 ff.; v. Woedtke, in v. Stengels Wörter-
buch des deutschen Verwaltungsrechts, 1900, 1 61; Manes, Die Arbeiterversicherung (Göschen),
1905, S. 15; derselbe, Versicherungswesen (Teubner), 1905, S. 2! Stier-Somlo, Recht
der Arbeiterversicherung, Grundriß, 1906, S. 5; 83 erleder, Privatrecht und soziales Recht,
1895, S. 34; Ehrenberg, Versicherungsrecht 120: H. Siefart, Zeitschrift für die gesamte
Versicherungs-Wissenschaft, Bd. VIII, S. 758.
1 Zu vgl. RP. Weyl, Kirchenrecht und Reichsversicherungsrecht im Arch. f. öff. R. X 350 ff.
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