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Die Erklärung der sozialen Versicherung als einer Fürsorge des Staats erscheint zu un-
bestimmt und das Wesen der sozialen Versicherung nicht ausreichend zu erfassen. Dies ist meines
Erachtens nur möglich durch eine Erweiterung des Versicherungsbegriffs 1. Hierbei sind die
Einrichtungen der sozialen Versicherung als Ganzes zu betrachten; Abweichungen in Einzel-
heiten müssen zurücktreten. Bei einer „Fürsorge des Staats“ kann man von der Aufbringung
der Mittel ganz absehen; bei einer Versicherung ist die Aufbringung der Mittel durch die Be-
teiligten — die Beitragleistung — aber ein wesentliches Element. Eine solche Gestaltung der
Rechtsverhältnisse hatten diejenigen im Auge, die bei Entstehung der Gesetze von einer „Ver-
sicherung“ sprachen.
Das praktische Ergebnis dieser Erörterungen besteht darin, daß die Anwendung all-
gemeiner Grundsätze des bisherigen Rechts — wie dies auch schon in der Praxis vielfach geschehen
ist — auf dem Gebiete der sozialen Versicherung nicht ausgeschlossen ist. In erster Linie aber ist
das neue Recht unter Würdigung von Anlaß, Zweck und Ziel seiner Entstehung aus sich selbst
heraus zu beurteilen und zu erläutern.
§ 4. Zwang und Freiheit (Selbstverwaltung) auf dem Gebiete der sozialen
Versicherung.
I. Die deutsche soziale Versicherung kann in ihrer Eigenart nicht verstanden werden, ohne
ihre beiden Grundlagen richtig erkannt zu haben: den Zwang bei dem Zustandekommen der
Versicherung und die weitgehende Freiheit bei deren Durchführung.
Ein Zwang auf dem Gebiete der sozialen Versicherung besteht nach drei Richtungen hin:
1. in der Bestimmung, daß ein näher bezeichneter Kreis von Personen ohne sein Zutun
(kraft Gesetzes, Bundesratsbeschlusses oder der Satzung) versichert ist (sog. Versiche-
rungspflichtz;
2. in der Bestimmung, daß ein Kreis von Personen, der sich mit dem vorbezeichneten
nicht deckt, ohne sein Zutun (ebenfalls kraft Gesetzes usw.) zur Leistung on Beiträgen
verpflichtet ist Beitragspflicht);
3. in der Bestimmung, daß die Versicherung durchgeführt wird durch gesetzlich ausgestaltete
Zwangsorganisationen (Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, Versicherungs-
anstalten usw.). Man spricht deshalb auch von dem Grundsatz der Zwangsversicherung
im Gegensatz zu dem Grundsatz des Versicherungszwangs.
Versicherungspflichtig ist hiernach nicht diejenige Person, welche die Sicherung
zu gewähren hat (z. B. auf dem Gebiete der Unfallversicherung die Gesamtheit der Unter-
nehmern), sondern diejenige, welche den Anspruch auf Sicherung erlangt (richtiger wäre also
zu sagen: versicherungsberechtigt). Der Zwang ist im wesentlichen auf die
Leistung von Beiträgen — d. h. die Aufbringung der Mittel für die Versicherung —
gerichtet, nicht auf die Annahme der Leistungen durch die Berechtigten. Neben der Beitrags-
pflicht bestehen aber auf dem Gebiete der sozialen Versichenung noch weitere gesetzliche
Pflichten (z. B. Meldepflichten, Pflicht zur Einreichung von Anzeigen und Nachweisungen,
Pflicht zur Beobachtung und Durchführung der Unfallverhütungsvorschriften usw.).
Der Zwang ist an sich keine herrliche Sache, für die man sich begeistern könnte, sondern
lediglich ein notwendiges Mittel zum Zweck, ohne welches eine soziale Versichenung im großen
Stile nicht durchzuführen gewesen wäre. Die Erfahrung hat gelehrt, daß von den Mitteln,
welche die Privatrechtsordnung bietet — freiwillige Versicherung bei Versicherungsgesellschaften,
Eintritt in Renten- und Pensionskassen, Kranken- und Sterbekassen, Bildung von Gesellschaften
zur gegenseitigen Versicherung, Zurücklegung eines Teils des Einkommens für spätere ungünstige
1 Der Begriff der „Versicherung" steht keineswegs fest. Auch bei Beratung des Gesetzes über
die privaten Versicherungsunternehmungen vom 12. Mai 1901 (Rl. S. 139) hat sich gezeigt,
daß es nicht möglich ist, den Begriff der Versicherung durch eine gesetzliche Vorschrift in unanfecht-
barer Weise festzulegen (vgl. ferner die Begründung zu dem Entwurf eines Gesetzes über den
Versicherungsvertrag, Berlin 1903, S. 54). Und bei den Erörterungen über Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit wird die bloße Arbeitslosen fürsorge geradezu in Gegensatz zu einer Arbeits-
losen versicherung gesetzt; es fragt sich, ob man sich mit einer bloßen Fürsorge (Arbeits-
nachweits, Notstandsarbeiten usw.) begnügen oder ob man eine Versicherung einrichten soll.