Sicherheits= und Sittenpolizei. Gesundheitspolizei. Offentliche Armenpflege. 533
III. Offentliche Armenpflege.
§ 9. Die öffentliche Armenpflege hat die Aufgabe, Hilfs-
bedürftige durch Organe der öffentlichen Verwaltung (Staats= und
Kommunalverwaltung) zuunterstützen. Die Unterstützung erfolgt im öffentlichen
Interesse. Die öffentliche Armenpflege muß sich auf das Notwendige beschränken, da die
Unterstützung aus öffen tlichen Mitteln erfolgt. Sie wird ergänzt durch die private
Wohltätigkeit, die über das Notwendige in ihren Leistungen hinausgehen kann und drohender
Verarmung vorzubeugen in der Lage ist. Man unterscheidet offene Armenpflege in den
Wohnungen der Hilfsbedürftigen und geschlossene Armenpflege in Anstalten. Die Armen-
unterstützung darf nicht so reichlich bemessen werden, daß der Unterstützte sich veranlaßt sieht,
länger als notwendig darauf zu verzichten, sich aus eigener Kraft seinen Unterhalt zu verschaffen.
Die soziale Versicherung bedeutet für die öffentliche Armenpflege eine wesentliche Ent-
lastung. Sie verhütet nicht nur von vornherein zahlreiche Unfälle, sondern sorgt auch dafür,
daß viele ganz oder teilweise Arbeitsunfähige wieder arbeitsfähig werden und somit der Armen-
pflege nicht zur Last fallen.
I. Die grundlegenden Normen für die öffentliche Armenpflege im Deutschen Reiche sind
enthalten im Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz in der Fassung
der Novelle vom 30. Mai 1908 und den dazu erlassenen Ausführungsgesetzen und Verord-
nungen der deutschen Einzelstaaten. Die Einführung des UW. ist in Bayern noch nicht erfolgt,
steht aber nahe bevor (vgl. RG. vom 30. Juni 1913, Rl. S. 495). Bis zum Erlaß eines von
den Organen der öffentlichen Armenpflege erstrebten Reichsarmengesetzes ist eine möglichst
weitgehende Vereinheitlichung der Landesgesetzgebung erwünscht.
Jeder Deutsche ist nach UWG. § 1 im Falle der Hilfsbedürftigkeit und in bezug auf den
Erwerb und Verlust des Unterstützungswohnsitzes wie ein Inländer zu behandeln. Der Unter-
stützungswohnsitz wird erworben durch einjährigen ununterbrochenen Aufenthalt in einem Orts-
armenverbande nach zurückgelegtem sechzehnten Lebensjahre, durch Verehelichung oder durch
Abstammung. Der Verlust tritt ein durch Erwerbung eines anderen Unterstützungswohnsitzes
oder durch einjährige ununterbrochene Abwesenheit nach zurückgelegtem sechzehnten Lebens-
jahre (UWG. §§ 9—27). Art und Maß der öffentlichen Unterstützung bestimmt die Landes-
gesetzgebung (UWG. § 8). Dem Hilfsbedürftigen soll durch die öffentliche Armenpflege der
Notbedarf gewährt werden. Man rechnet zum Notbedarf allgemein den unentbehrlichen Lebens-
unterhalt, wozu selbstverständlich Obdach und Kleidung gehören, die erforderliche Krankenpflege
und ein angemessenes Begräbnis. Da nun nach Zeit und Umständen bestimmt wird, was als
erforderlich und angemessen anzusehen ist, so ergibt sich schon daraus eine außer-
gewöhnliche Vielgestaltigkeit der Verwaltungspraxis. Namentlich an die Krankenpflege werden
heute wesentlich andere Anforderungen gestellt als vor Einführung der Sozialversicherung.
In einzelnen Bundesstaaten, nicht in Preußen und Hessen, wohl aber in Bayern, Sachsen,
Württemberg, Baden, gehört zu den Aufgaben der öffentlichen Armenpflege die Erziehung,
und in Baden außerdem noch die Erwerbsbefähigung der Kinder.
Hilfsbedürftig ist eine Person dann, wenn sie wegen vorübergehender oder
dauernder Arbeitsunfähigkeit sich und ihren Angehörigen den notdürftigen Lebensunterhalt
nicht verschaffen kann. Der Begriff der Hilfsbedürftigkeit ist durch das UW.G. nicht bestimmt,
läßt sich aber aus § 4 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 ableiten, wonach
eine Gemeinde einen neu Anziehenden dann abweisen kann, wenn er nicht hinreichende Kräfte
besitzt, um sich und seinen nicht arbeitsfähigen Angehörigen den notdürftigen Lebensunterhalt
zu verschaffen, und wenn er solchen weder aus eigenem Vermögen bestreiten kann, noch von
einem dazu verpflichteten Verwandten erhält. Wer sich also noch durch eine seinen Kräften und
Fähigkeiten entsprechende Arbeit Unterhalt erwerben oder noch Vermögen aufwenden kann,
ist nicht hilfsbedürftig. Nur die dauernde Hilfsbedürftigkeit berechtigt die Ge-
meinden zur Abweisung des neu Anziehenden oder zur Ausweisung des Zugezogenen, der
seinen Unterstützungswohnsitz noch nicht erworben hat. Vorübergehende Hilfs-
bedürftigkeit ist dann anzunehmen, wenn sie leicht zu beseitigen ist und voraussichtlich