Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 59 
Gründung eines neuen Staates von bestimmter Beschaffenheit auf bestimmten Wege. Die 
Erfüllung dieser Verpflichtung ist kein Vertrag. Sie gleicht allerdings einem Vertrage der Form 
nach, sofern sie eine übereinstimmende Willenserklärung mehrerer darstellt. Inhalt und Zweck 
der Erklärung ist aber nicht, wie bei einem Vertrage, die Begründung (bzw. Anderung oder 
Beendigung) eines Rechtsverhältnisses, sondern die Schaffung eines neuen Rechtssub- 
jekts (eines neuen Staatswesens) und die Setzung neuen Rechts (der Verfassung 
dieses Staatswesens). Übereinstimmende Willenserklärungen solcher Art werden in der modernen 
Rechtssprache nicht Verträge, sondern Verein barungen oder Gesamtakte genannt 
(Binding, Gründung des Norddeutschen Bundes S. 69 ff.; Kuntze, Der Gesamtakt 
(1892), S. 27 ff., 43 ff.; Triepel, Völkerrecht und Landesrecht S. 35 ff., 178 ff.). 
Man hat in der hier vertretenen Auffassung vom Wesen der Gründungsvorgänge die 
Behauptung einer für das menschliche Denken unfaßbaren „generatio abquivoca“ finden und 
auch sonst vielfach die Möglichkeit einer rechtswissenschaftlichen Erklärung dieser wie jeder Staats- 
gründung leugnen wollen (so insbesondere Jellinek, Staatsl. S. 263 ff., vgl. auch oben 
S. 12, 13). Jedoch mit Unrecht. Die Tatsache, daß das Dasein des Bundes und die Geltung 
seiner Verfassung in einem und demselben Augenblicke begannen, daß beides als Rechtsfolge 
einer und derselben Handlung, der Vereinbarung der 22 Staaten, erscheint, und daß endlich 
die Bundesverfassung, vor dem 1. Juli 1867 Vereinbarungsbestandteil („Vertrag"“), mit dem 
1. Juli sofort ipso facto Bundeswille, Bundesgesetz und damit jeder Disposition der gründenden 
Staaten entrückt wurde — all das ist nicht rätselhafter als die Begründung einer privatrechtlichen 
Korporation oder die Errichtung einer Stiftung. Eine Personenmehrheit konstituiert sich als 
rechtsfähiger Verein, die Mitglieder einer Familie kreieren eine Stiftung: in beiden Fällen 
wird dem neuen Rechtssubjekt eine Satzung gegeben, ein Vermögen übereignet. Wie es hier 
die innerstaatliche Rechtsordnung ist, welche an die Willenserklärung bestehender Per- 
sonen die Entstehung einer neuen Person und die weitere Tatsache müpft, daß mit dieser Ent- 
stehung das Vereinsstatut, das Stiftungskapital nicht mehr Wille und Eigentum der Gründer, 
sonderm Wille und Eigentum der Gründung, der neuen Personeneinheit sind, so ist es in 
dem Falle der Bundesstaatsgründung die zwischenstaatliche, die Völkerrechtsordnung, 
welche aus der Willenserklärung — Vereinbarung, Gesamtakt — mehrerer Staaten eine neue 
staatliche Einheit, den Bundesstaat, entstehen und die diesem Bundesstaate von seinen Gründem 
mitgegebene Verfassung als ein Rechtsgut erscheinen läßt, welches der neuen Bundesgewalt 
mit dem Moment ihrer Entstehung unwiderruflich und ausschließlich gehört — als eine 
Norm, welche auf dem Willen der Bundesgewalt und auf ihrem Willen allein ruht. 
III. Der Norddentsche Bund und die süddentschen Staaten. — Die Vollendung des 
deutschen Einheitswerkes durch Einbeziehung Süddeutschlands in die nationale Staaten- 
verbindung war durch den Prager Frieden (oben S. 55) an die Voraussetzung geknüpft worden, 
daß zuvor die südlich des Mains belegenen deutschen Staaten zu einem Verein mit „inter- 
nationaler, unabhängiger Existenz“ zusammentreten sollten; diesem süddeutschen Bunde würde 
dann die Herstellung einer „nationalen Verbindung“" mit dem norddeutschen überlassen bleiben. 
Auf französisches Betreiben (Sybel 5 236 ff., 255 ff.) den Friedensverträgen eingefügt, 
war diese Klausel nach der Absicht ihres intellektuellen Urhebers, Napoleons III., nur darauf 
berechnet, durch möglichst selbständige Konstituierung Süddeutschlands und Verschärfung des 
Gegensatzes von Nord und Süd dem weiteren Fortgang der deutschen Einheitsbestrebungen 
Hindernisse zu bereiten. Die Aufnahme dieser „Mainlinie“ in den Prager Friedenstraktat war 
der Kaufpreis für Frankreichs einstweilige Neutralität in der deutschen Frage gewesen; eine 
Bewilligung, welche von dem großen leitenden Staatsmanne Preußens mit Ruhe vor Mit- 
und Nachwelt verantwortet werden konnte, weil — so sah es Bismarck voraus — die Attraktions- 
kraft des norddeutschen Bundesstaates auf die einzelnen süddeutschen Staaten stärker sein werde 
als das Bestreben, unter sich einen süddeutschen Sonderbund zu stiften, weil Osterreich nach 
seinem Ausscheiden aus Deutschland ein emstliches Interesse an dem Zustandekommen eines 
solchen Südbundes nicht haben werde, und weil endlich Frankreichs freilich zu gewärtigender 
Widerstand gegen die Uberspringung der „Mainlinie“ durch die nationale Politik sich schon werde 
brechen lassen. Die Geschichte der nächsten Jahre erwies die Richtigkeit dieser Voraussicht. 
Südbund und Mainlinie waren nur Scheinhindernisse der nationalen Fortentwicklung; das Rad
	        
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