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dieser Entwicklung rollte nicht sowohl über sie hinweg als an ihnen vorbei — der Südbund kam
nicht zustande 1, und die Absichten der „Mainlinie“ wurden durchkreuzt durch eine Reihe von
Verträgen mit den einzelnen süddeutschen Staaten. Diese Verträge, welche im praktisch-
politischen Effekt die wichtigsten nationalen Forderungen schon für die Zeit von 1866—1871
erfüllt haben, sind: die Schutz= und Trutzbündnisse zwischen Preußen und den
Südstaaten einerseits, der unter dem 8. Juli 1867“ emeuerte Zollvereinigungs-
vertrag anderseits.
Die Schutz= und Trutzbündnisse, von denen die mit Württemberg, Baden und Bayem
schon im August 1866 abgeschlossen wurden, während das preußisch-hessische Bündnis erst am
1. April 1868 zustande kam, bewirkten schon vor der Gründung des Norddeutschen Bundes die
militärische Einheit der gesamten Nation: jeder deutsche Krieg mit dem Auslande mußte fortab
ein gemeinsamer Krieg sein und die Truppen aller deutschen Staaten unter dem Oberbefehle
des Königs von Preußen vereinigen. Zur Durchführung des leitenden Gedankens dieser
Allianzen trafen die süddeutschen Staaten Vereinbarungen unter sich (Stuttgarter Konferenz,
5. Febmar 1867) über die Reorganisation ihres Heereswesens nach dem Vorbilde der preußischen
Armee.
Galten die Schutz= und Trutzbündnisse dem Gedanken der militärischen Einheit, so war
es die Aufgabe des Zollvereinigungsvertrages, zwischen dem Norddeutschen
Bunde und den süddeutschen Staaten die wirtschaftlich-handelspolitische Einheit Deutschlands
so wiederherzustellen, wie sie bereits der alte, 1833 gegründete, durch den Krieg von 1866 zer-
sprengte deutsche Zollverein dem außerösterreichischen Deutschland gewährleistet hatte, und diese
Einheit weiter zu vervollkommnen und auszubauen. Der Zollverein — auf dessen Geschichte
und Wirksamkeit hier nicht eingegangen werden kann :2 — hatte schon seit Jahrzehnten den Satz
der heutigen Reichsverfassung (Art. 33): „Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet, um-
geben von gemeinschaftlicher Zollgrenze“ mit den Mitteln einer völkerrechtlichen, sozietäts-
mäßigen Vereinigung praktisch verwirklicht, hatte den deutschen Partikularismus wenigstens
wirtschaftlich insoweit unschädlich gemacht, als die Binnengrenzen der deutschen Staaten nicht
mehr Zollgrenzen sein durften; er hatte die gesetzgeberische und administrative Ordnung des
Zollwesens und der wichtigsten inneren Verbrauchssteuern für das gesamte Vereinsgebiet ver-
einheitlicht und den Ertrag der Zölle und gemeinschaftlichen Steuem als Gemeingut behandelt,
welches jeweils unter die Vereinsstaaten nach dem Maßstabe der Bevölkerung zu verteilen war.
Dieser Zollverein wurde jetzt, durch Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde, Bayern,
Württemberg und Hessen vom 8. Juli 1867 (Abdruck neuestens bei Binding, Staatsgrund-
gesetze, 1. Heft, Größere Ausg. S. 116 ff.), emeuert. Sein Grundcharakter blieb der alte: eine
rein völkerrechtliche (vgl. oben S. 14, 15) Staatensozietät, eine Vereinigung souveräner
Staaten zu bestimmten, wirtschaftspolitischen Zwecken — nur daß als Mitglieder nicht mehr
die einzelnen norddeutschen Staaten auftreten, sondern an deren Stelle der sie umfassende
Norddeutsche Bund erscheint. Die Organisation aber wurde eingreifend geändert; sie
erhielt in dieser letzten, zum völligen Aufgehen des Vereins im neuen Reich hinüberleitenden
Entwicklungsstufe einem staatsähnlichen, die Formen einer völkerrechtlichen Staatenverbindung
beinahe verleugnenden Charakter. Während früher Willenserklärungen des Zollvereins nicht
anders als durch einstimmige Beschlüsse der „Generalkonferenz“ (des alljährlich zusammen-
tretenden Kongresses der Bevollmächtigten der Vereinsstaaten) zustande kommen konnten, wurde
nun, durch den Zollvereinigungsvertrag vom 8. Juli 1867, eine in konstitutionellen Formen
aufgebaute, mit Mehrheitsbeschlüssen arbeitende Vereinslegislative geschaffen. Die gesetzgebende
Gewalt des Zollvereins wurde ausgeübt durch den Zollbundesrat und das Zollparla-
ment, ersterer der Bundesrat des Norddeutschen Bundes, verstärkt durch sechs bayerische,
1 Die Versuche Bayerns, ihn zustande zu bringen, scheiterten an dem Widerspruche Württem-
bergs und Badens. S. Frhr. v. Völderndorff in Hirths Annalen, 1890 S. 241 ff.;
G. Meyer, Die Reichsgründung und das Großherzogtum Baden S. 6 ff.
„ v. Treitschke, Deutsche Geschichte 3 629 ff., 4 350 ff.; v. Festenberg-
Packisch, Geschichte des Zollvereins (1869). Viel wertvolles Material zur Geschichte des Zoll-
vereins enthalten auch die „Lebenserinnerungen“ des Staatsministers R. v. Delbrück (2 RNde.,
1905).