Deutsches Staatsrecht. 61
vier württembergische, drei badische, zwei hessische Regierungsbevollmächtigte, letzteres der
durch Beizug von 85 Abgeordneten aus den süddeutschen Staaten erweiterte norddeutsche Reichs-
tag. Dem Zollbundesrat und der Krone Preußen als „Zollpräsidium"“ wurde eine Reihe administra-
tiver Funktionen übertragen. So war, dem politischen Effekte nach, die Erstreckung der nord-
deutschen Bundesverfassung auf Süddeutschland in dem beschränkten Wirkungzkreise des Zoll-
vereins doch schon vor 1871 erreicht worden: die Einrichtungen des Reiches warfen ihre Schatten
voraus. '
IV. Die Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum Deutschen Reiche. — Die Schutz-
und Trutzbündnisse, welche seit 1866 Nord- und Süddeutschland vereinten, erhielten alsbald
Gelegenheit, sich zu bewähren. Als im Juli 1870 Frankreich den Krieg an Preußen erklärte,
zögerten die süddeutschen Verbündeten nicht, den casus koederis anzuerkennen, und mit ge-
waltigen, gemeinsamen Waffentaten wurde der letzte und stärkste der europäischen Widerstände
gegen die Vollendung der deutschen Einheit zu Boden geschlagen. Nach dem großen Schicksals-
tage von Sedan war es gewiß, daß Frankreich unsere Einheit nicht mehr hindern konnte, daß
das Reich kommen werde. Es kam, so wie die Notwendigkeit der Dinge es vorgezeichnet hatte:
durch freiwilligen, von ihnen selbst begehrten Eintritt der süddeutschen Staaten in den Nord-
deutschen Bund.
Die Ehre des Vortrittes und ersten Wortes fiel dem größten der Südstaaten, Bayern,
zu. Die bayerische Regienung „gab im Laufe des September 1870 dem Präsidium des Nord-
deutschen Bundes zu erkennen, daß die Entwicklung der politischen Verhältnisse Deutschlands,
so wie sie durch die kriegerischen Ereignisse herbeigeführt sei, nach ihrer Uberzeugung es bedinge,
von dem Boden der völkerrechtlichen Verträge, welche bisher die
süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bunde verbanden,
ab und zu einem Verfassungsbündnisse überzugehen“ (so der Bericht
des Staatsministers Delbrück an den Norddeutschen Reichstag vom 5. Dezember 1870).
Das Programm für die Vollendung der deutschen Einheit lautete also: ab vom Völker-
recht und hin zum Staatsrecht. Die Grundlage der Einheit von Nord und Süd sollte nicht mehr
ein Bündel „Verträge“, sondern eine „Verfassung“ sein. In die wissenschaftliche Ausdrucksweise
übersetzt hieß das: keinen Staatenbund, überhaupt kein bloß völkerrechtliches Vertrags-
verhältnis, sondern einen Bundesstaat, wie der Norddeutsche Bund, der nun auf den
Süden Deutschlands ausgedehnt werden sollte, einer war.
Die Errichtung dieses Bundesstaates vollzog sich in Rechtsformen, welche den Vorgängen
bei und vor der Gründung des Norddeutschen Bundes (s. oben 1I) völlig analog waren: im Wege
der Vereinbarung zwischen den beteiligten Staatsgewalten, dem Norddeutschen Bunde
einerseits, den süddeutschen Staaten (des Großherzogtums Hessen bezüglich seiner südlich des
Mains belegenen Landesteile) anderseits. Die reichsgründende Vereinbarung erscheint perfekt
in dem allseitigen Beitritt der fünf Staatsgewalten zu den Verträgen, welche zwischen dem
Norddeutschen Bunde und jedem der Südstaaten im Laufe des Monats November 1870 ab-
geschlossen worden waren, den sog. „Novemberverträgen“ (Abdruck bei Binding
a. a. O. S. 148 ff.). Letztere sind: 1. Vereinbarung zwischen dem Norddeutschen Bunde,
Baden und Hessen über Gründung des Deutschen Bundes und Annahme der Bundes-
verfassung vom 15. November 1870; 2. Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde, Baden
und Hessen einerseits und Württemberg anderseits, betr. den Beitritt Württembergs
zur Verfassung des Deutschen Bundes vom 25. November 1870, nebst Schlußprotokoll und
Militärkonvention zwischen dem Norddeutschen Bunde und Württemberg von demselben Tage;
3. Vertrag, betr. den Beitritt Bayerns zur Verfassung des Deutschen Bundes vom 30. No-
vember 1870, nebst Schlußprotokoll von demselben Tage. Der badisch-hessische und der bayerische
Vertrag wurden in Versailles, der württembergische in Berlin abgeschlossen. Die Verträge ent-
halten einmal die Erklärung des Eintritts der kontrahierenden süddeutschen Staaten in den
Norddeutschen Bund. Sodann geben sie, als Bedingungen dieses Eintritts, diejenigen Abände-
rungen der Bundesverfassung an, welche den beitretenden süddeutschen Staaten notwendig
bzw. wünschenswert erschienen und von dem Norddeutschen Bunde zugestanden wurden: so
ließ sich insbesondere Bayern seinen Eintritt in den Bund teuer genug bezahlen durch Aus-
bedingung einer Fülle von Sonderprivilegien („Reservatrechten", vgl. unten § 13, II, Auf-