Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

62 G. Anschütz. 
zählung derselben in dem Versailler Vertrag vom 23. November 1870, Ziffer III, unter den 
Rubriken: „Beschränkungen, welche die vorstehend festgestellte Verfassung des Deutschen Bundes 
erleidet hinsichtlich ihrer Anwendung auf das Königreich Bayern“), während solche Ausnahms- 
rechte von dem Königreich Württemberg nur in sehr mäßigem, dem Großherzogtum Baden 
in ganz geringem Umfange begehrt und erlangt wurden. 
Die Novemberwverträge enthalten ferner die Abmachung, daß die allseitige Ratifikation 
nach Erteilung der verfassungsmäßig einzuholenden Zustimmung der gesetzgebenden Faktoren 
— Bundesrat und Reichstag des Norddeutschen Bundes, süddeutschen Ständeversammlungen — 
erfolgen und sodann die Verträge am 1. Januar 1871 in Kraft treten sollten. In Wahrheit 
war dieses „Inkrafttreten“ eine Erfüllung und damit ein Außer krafttreten der November- 
verträge, denn mit jenem Termin, dem Neujahrstage von 1871, sollte ja die neue Bundesstaats- 
gewalt, die Reichsgewalt, erstehen deren Errichtung das Ziel der Novemberverträge war, und 
deren Dasein diesen Verträgen, die für sie nur Mittel zum Zweck gewesen waren, ein unwider- 
rufliches Ende bereitete. 
Die geforderte Zustimmung zu den Novembewerträgen wurde von dem Bundesrat und 
Reichstag des Norddeutschen Bundes und den Ständeversammlungen Württembergs, Badens 
und Hessens verabredungsgemäß im Dezember 1870, von dem bayerischen Landtage verspätet, 
erst im Januar 1871, erteilt. Die Zustimmung galt zugleich auch einer Anfang Dezember 
zwischen allen vereinbarenden Teilen zustande gekommenen Zusatzbestimmung des Inhalts, daß 
der erweiterte Norddeutsche Bund nicht, wie zunächst beabsichtigt, „Deutscher Bund“ heißen, 
sondern den Namen „Deutsches Reich“ führen und daß dem König von Preußen in seiner 
Eigenschaft als Träger der Präsidialgewalt in diesem Reiche der Name „Deutscher Kaiser“ 
beigelegt werden solle 1. 
Hierauf trat, am 1. Januar 1871, das Deutsche Reich ins Leben. Von der rechtlichen 
Natur seiner Entstehung gilt das gleiche, was oben (1II) über die Gründung des Norddeutschen 
Bundes gesagt wurde — mit dem einen wichtigen Unterschied freilich, daß durch Staaten- 
vereinbarung hier nicht, wie# 1867, ein neuer Staat geschaffen, sondern lediglich ein bestehender 
verändert und erweitert wurde. Denn das steht außer Zweifel, daß das Deutsche Reich politisch 
wie staatsrechtlich die Fortsetzung und der Rechtsnachfolger des Norddeutschen Bundes war 
und ist. 
Von dem Norddeutschen Bunde übernahm das Reich insbesondere auch dessen Ver- 
fassung — in der abgeänderten Gestalt, welche sie durch die Novembererträge unter nach- 
heriger Zustimmung der Legislative des Norddeutschen Bundes und der süddeutschen Landtage 
empfangen hatte. Dieser Verfassungstext litt an dem äußerlichen Mangel, daß er nicht in 
einer Urkunde zusammengefaßt, sondemm in mehreren Vertragsinstrumenten — den November- 
verträgen sowie den Vereinbarungen über die Namen „Kaiser und Reich" — verstreut war. Um 
diesem Mangel abzuhelfen, wurde alsbald nach Errichtung des Reiches eine Neuredaktion der 
Verfassung ins Werk gesetzt — eine Aufgabe, die natürlich niemand anders zu lösen bemfen 
sein konnte als die gesetz= und verfassunggebenden Faktoren des jungen Reiches, Bundesrat 
und Reichstag, selbst. Die Aufgabe wurde in der ersten Session des Deutschen Reichstags, 
während der Monate März und April 1871, erledigt; auf Grund der übereinstimmenden Be- 
schlüsse des Bundesrates und des Reichstages erging das Reichsgesetz, betreffend 
die Verfassung des Deutschen Reichs, vom 16. April 1871. Es besteht aus zwei 
Teilen: dem kurzen Publikationsgesetz und der ihm als Anlage beigefügten Verfassungsurkunde. 
Aus dem Inhalte des Publikationsgesetzes ist vor allem die Bestimmung des § 1 hervorzuheben, 
wonach die neuredigierte und nunmehr von Rechts wegen verkündigte Verfassung „an die 
Stelle der zwischen dem Norddeutschen Bunde und den Großherzogtümem Baden und 
Hessen vereinbarten Verfassung des Deutschen Bundes sowie der mi“ dem Königreicher Bayem 
Um die Priorität der ersten Anregung zur Wiederherstellung der deutschen Kaiserwürde 
können sich Baden und Bayern streiten (vgl. Georg Meyer, Die Reichsgründung und das Groß- 
herzogtum Baden, S. 54 ff.; v. Keudell, Fürst und Fürstin Bismarck S. 463). Die unmittelbar 
zum Ziele führende Aktion, der Brief König Ludwigs II. von Bayern an König Wilhelm I. vom 
27. November 1870, ist jedenfalls von Bismarck veranlaßt (s. dessen Ged. u. Erinn. 2 115 ff.) 
und materiell sein Werk.
	        
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