Deutsches Staatsrecht. 65
das Reich geschaffen haben, ist kein Vertragsverhältnis, kein Staatenbund oder eine sonstige
völkerrechtliche Staatenverbindung, sondern etwas Größeres, Festeres, Mächtigeres: ein
Staat. Dieser Satz: das Deutsche Reich ist ein Staat, gehört allezeit an die Spitze der Be-
trachtungen über die rechtliche Natur von Reich und Reichsgewalt.
Im einzelnen läßt sich der Beweis, daß die Begriffsmerkmale des Staates bei dem Deutschen
Reiche zutreffen, freilich nur durch eine ad hoc zu unternehmende Gesamtdarstellung des Reichs-
staatsrechtes erbringen (eine Aufgabe, die von Haenel, Staatsr. Bd. 1 S. 217—856, ge-
stellt und in großartiger Durchführung gelöst ist). Doch läßt sich aus der Gesamtmasse dieses
Beweismaterials hier so viel vorwegnehmen, als erforderlich erscheint, um die Essentialien des
Staatsbegriffs im Bilde des Reiches und damit die Berechtigung und logische Verpflichtung
festzustellen, das Reich auch „Staat" zunennen. In dieser Beziehung ist folgendes hewor-
zuheben: zunächst die Tatsache, daß das Reich als Grundlage seiner rechtlichen Ordnung und
Organisation eine Verfassung besitzt. Diese Verfassung, die Reichsverfassung, ist, wie
oben bei der Darstellung der Gründung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches
gezeigt, kein Vertrag, den die deutschen Einzelstaaten nach den Normen und mit der binden-
den Kraft des Völkerrechts unter sich abgeschlossen haben, sondern ein Gesetz, welches ihnen
und ihren Untertanen gegeben ist von der Reichsgewalt, einer ihnen allen übergeordneten
Gewalt: ein Gesetz, welches gilt und zu befolgen ist, nicht weil sie, die Einzelstaaten, wollen,
sondern weil das Reich, ein von allen Einzelstaaten verschiedenes, höheres Gemeinwesen, es will.
Die Reichsverfassung und auf ihrer Grundlage die gesamte Rechtsordnung des Reiches ruht auf
dem Willen des Reiches selbst und auf keinem anderen Willen. Die Meinung, welche in der
Reichsverfassung einen Vertrag zwischen den Einzelstaaten erblicken will (vertreten insbesondere
von v. Seydel), verwechselt die Frage, was das Reich ist, mit der andern, wie das Reich
geworden ist. Geworden, geschaffen ist es, in der durch die Verfassung definierten Gestalt,
allerdings durch vertragsförmige Dispositionen (für welche der, auch hier und oben, S. 59, an-
gewandte Ausdruck „Vereinbarung" (oder „Gesamtakt") korrekter ist als „Vertrag", weil das
Wort „Vertrag" bisher nur für übereinstimmende Willenserklärungen üblich war, in denen
die Vertragenden über ihre subjektiven Rechte disponieren, es sich hier, bei den staatsgründenden
Vereinbarungen, aber nicht um Dispositionen über subjektives Recht, sondern um die Kreation
objektiven Rechtes, eines neuen Staates und seines Rechtes, handeltl, — aber das Geschaffene
selbst ist mehr als ein Vertrag — kein Rechtsverhältnis, sondern ein neues Rechtssubjekt. Man
kann sich zur Stütze der Behauptung, daß die Reichsverfassung ein Vertrag sei, auch nicht auf
die Eingangsworte der Verfassungsurkunde berufen. Wenn dort geschrieben steht: „Seine
Mojestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes, S. M. der König von
Bayern . . . schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und
des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes.
Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich führen und wird nachstehende Verfassung haben,“
so ist hierüber — mit Laband, Staatsr. 1 130, 131, gegen G. Meyer, Staatsr. S. 163,
529 — zu bemerken, daß diese Worte lediglich enuntiativer, nicht dispositiver Natur sind. Sie
berichten, und zwar in zutreffender Weise, wie das Reich geschaffen worden ist; sie zeigen den
stehengebliebenen Text der Gründungsvereinbarung, die, sobald sie mit dem Tagesanbruch
des 1. Januar 1871 ihr Ziel erreichte, vermöge Erfüllung in ihrer rechtlichen Bindekraft erlosch.
Auf diese Eingangsworte, die uns nur Geschichte erzählen, nicht Normen setzen, kann sich heute
niemand mehr berufen, um für sich Rechte, für andere Pflichten herzuleiten. Was der Reichs-
verfassung ihren rechtlichen Charakter und ihre verbindliche Kraft verleiht, ist nicht das „schließen
einen ewigen Bund“ des Eingangs, sondern das Wir . . . verordnen im Namen des
Reichs“ der Publikationsformel (vgl. S. 63 oben). Die Reichsverfassung ist nicht gültig, weil
sie zwischen den Einzelstaaten paktiert, sondern weil sie von der Reichsgewalt selbst „ver-
ordnet" (genauer: vom Kaiser auf Grund der Sanktion des Bundesrates und der Zustim-
mung des Reichstages ausgefertigt und im „Reichsgesetzblatt“ verkündigt) ist; sie ist Reichs-
gesetz, nichts als Reichsgesetz. Nicht etwa, wie v. Seydel will (vgl. oben S. 57), „über-
einstimmendes Landesgesetz“. Diese Meinung soll der Konstruktion der Reiches als eines völker-
rechtlichen Vertragsverhältnisses zwischen souveränen Staaten zur Stütze dienen; sie führt
ihren Vertreter zu der weiteren Folgerung, daß, nachdem die Reichsverfassung nichts anderes
En#klopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band IV. 5