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sei als übereinstimmendes Partikularrecht, es ein Reichsrecht im Sinne der Außerung eines
über den Einzelstaaten frei waltenden Gesamtstaatswillens überhaupt nicht geben könne, alles
Reichsrecht und alle Reichsinstitutionen vielmehr nichts anderes seien als gemeinsame Normen
und Institutionen des deutschen Partikularrechts. Die Prämissen dieser Schlußfolgerung — nach
welcher es schließlich formell konsequent erscheint, wenn in einem Werke über bayerisches Staats-
recht die organischen Einrichtungen des Reiches mitbehandelt und z. B. der Reichstag und die
Reichsbehörden als Zubehörstücke der bayerischen Verfassung vorgestellt werden 1 — sind absolut
unrichtig. Die Reichsverfassung ist nie und nirgends als „Landesgesetz“ behandelt, insbesondere
niemals als solches publiziert worden; ihre (ausschließliche) Publikation im „Reichsgesetzblatt",
ausgegeben den 20. April 1871, ist doch nicht gleichbedeutend mit der Verkündigung in den
25 Landegsgesetzblättem. Abgesehen hiervon steht der Konstruktion der Reichsverfassung als
eines Komplexes übereinstimmender Landesnormen die (zuerst und am besten von Haenel
heworgehobene) Tatsache entgegen, daß die Reichsverfassung einen für das Landesgesetz un-
möglichen Inhalt habe: „Die Regelung des Koexistenzverhältnisses mehrerer Staaten liegt
über den Bereich des Herrschaftsverhältnisses jedes einzelnen Staates und damit irgendeines
Landesgesetzes hinaus."
Im Einklang mit der alleinigen Eigenschaft der Reichsverfassung als eines Reichsgesetzes
steht die von ihr selbst, Art. 78 Abs. 1, ausdrücklich gezogene Folgerung, daß Abänderungen der
Reichsverfassung im Wege der Reichsgesetzgebung erfolgen. Dieser Verfassungssatz sagt nicht
sowohl, daß die Reichslegislative (unter Beobachtung der durch Art. 78 Abs. 1 vorgeschriebenen
Form: qualifizierte Majorität im Bundesrat) zur Abänderung der Verfassung zuständig ist,
sondern daß sie es ausschließlich ist: außer den verfassungsmäßigen Organen der
Reichsgesetzgebung hat niemand das Recht, Veränderungen der Reichsverfassung
vorzunehmen oder solche Veränderungen zu verbieten bzw. von seiner Zustimmung
abhängig zu machen 2. Das Reich hat in und mit seiner gesetzgeberischen Gewalt auch die ver-
fassunggebende und verfassungändernde Gewalt, und es hat sie allein, ohne irgendwelche
Beteiligung der Einzelstaaten als solcher (d. h. außerhalb des Reichsorganes, dessen Mit-
glieder sie emennen, des Bundesrates. Vgl. die abweichende Ordnung des Verfassungs-
änderungsverfahrens in der Schweiz und in Nordamerika: Haenel, Staatsr. 1 783 ff.).
Die Worte „Veränderungen der Reichsverfassung“, unterschiedslos, wie sie in Art. 78 Abs. 1
hingestellt sind, sind auch unterschiedslos zu verstehen, d. h. im Sinne von allen möglichen und
denkbaren Verfassungsänderungen, einschließlich derjenigen, welche die verfassungsmäßig (ins-
besondere Art. 4 RV.; vgl. unten & 11, II) bestimmte Kompetenz des Reiches abändern. In
der Befugnis der Reichsgewalt, ohne und wider den Willen der Einzelstaaten (als solcher) Ver-
fassungsänderungen vorzunehmen, ist die Befugnis inbegriffen, Staatshoheitsrechte, welche
bisher dem Reiche nicht, sondern den Einzelstaaten zustanden, den letzteren zu entziehen und
sie der Reichsgewalt zuzulegen.
1 Vgl. v. Seydel, Bayer. Staatsr. 1 486 ff., 667 ff. Hierauf zu erwidern: „Die nationale
reichsmäßige Entwicklung leidet darunter, wenn die einzelnen Länder und Landtage sich gewöhnen,
die Reichseinrichtungen als Zugehör ihrer Partikulareinrichtungen zu betrachten, wenn sie sich
nicht an den Gedanken gewöhnen, daß das Reich kein Anbau an das Gebäude der Einzelstaaten,
sondern daß es die umfassende Wölbung ist, unter der die einzelnen Staaten in ihrer Gesamtheit
wohnen“: Bismarck, Reichstagsrede von 1873 (H. Kohl, Politische Reden des Fürsten Bis-
marck, Bd. 6 S. 64, 85.).
: Die in extrem partikularistischen Kreisen bisweilen, meist unter Ausschluß der Offentlich-
keit, diskutierte, literarisch allein von v. Jageman n# Die deutsche Reichsverfassung (1904)
S. 30 vertretene Ansicht, wonach die verbündeten Regierungen jederzeit imstande seien, durch
einen „neuen Vertrag“ das bestehende Reich aufzulösen und durch ein neues mit einer anderen
Verfassung zu ersetzen, steht in schroffem Widerspruch mit Art. 78 RV. und der staatlichen Natur
des Reichs. Politisch ist sie verwerflich als ein Unternehmen, welches geeignet ist, das Vertrauen
auf die Festigkeit des Reichsverbands und die Verfassungstreue der Regierungen zu erschüttern.
Sie ist von der Reichsregierung (Staatssekretär Graf Posadowsky im Reichstage, 24. Januar 1905)
und der Literatur, von letzterer einstimmig, abgelehnt. Vgl. Meyer-Anschütz 601 Anm. 38;
Laband, Staatsr. 1 91 N. 1 und kleine Ausgabe des Labandschen Staatsrechts (6. Aufl.) 24
N. 1; Laband in der DJurZtg. 9 561 ff.; Strantz das. 534; Loening, Grundz. der
Verfass. des Deutschen Reichs (2. Aufl.) 19, 28; Zorn, Reich und Reichsverfassung (1895), 3;
Triepel, Unitarismus und Föderalismus 31, 32.