Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 67 
Diese dem Reiche unzweifelhaft (Näheres bei Haenel, Studien 1 156 ff.) zustehende 
Fähigkeit zur Selbsterweiterung seiner Kompetenz auf Kosten der Einzelstaaten, die sog. „Kom- 
petenz-Kompetenz“ (vgl. auch unten § 11, IV), ist sehr beweiserheblich für die hier er- 
örterte Staatlichkeit des Reiches. Denn dem Reiche Kompetenz-Kompetenz zuschreiben heißt 
behaupten, daß die Reichsgewalt im Vergleich mit der Staatsgewalt der Einzelstaaten die recht- 
lich höhere und damit in Deutschland überhaupt die höchste, die souveräne Gewalt 
darstellt. Ist dem aber so, und vergegenwärtigt man sich ferner, daß die Reichsgewalt nicht nur 
Hoheitsrechte über die Einzelstaaten als solche, sonderm auch eine Fülle von (gesetzgeberischen, 
richterlichen, vollziehenden) Herrschaftsrechten ummittelbar über die Untertanen 
der Einzelstaaten ausübt, so enthüllen sich dem Betrachter des Reichsbaues alle wesentliche 
Merkmale des Staatsbegriffes (oben § 1): Land, Leute, oberste Gewalt, Zusammenfassung der 
beiden ersteren durch die letztere zur Einheit eines Gemeinwesens, welches daher den Namen 
Staat verdient und ihn um so mehr verdient, als es ein Gemeinwesen mit souveräner, 
die Einzelstaaten in Untertänigkeit, daher Nichtsouveränetät, versetzender Gewalt darstellt. 
Das Deutsche Reich ist ein Staat, und zwar ein souveräner Staatt. 
Die Reichsgewalt zeigt aber wie in ihrem Gesamtcharakter so auch in ihren einzelnen 
Betätigungsgebieten und Betätigungsformen (Grundfunktionen), die Merkmale einer wahren 
Staatsgewalt. Wer will denn leugnen, daß die Aufgaben, welche das Reich sich stellt und löst, 
von Staates Art und Eigen sind? Das Reich bewährt seine Tätigkeit auf dem Gebiete 
des nationalen Machtzweckes — und hier arbeitet es sogar mit ausschließlicher, die 
Zuständigkeit der Einzelstaaten ausschaltender Kompetenz: nur das Reich macht die große Politik, 
die Weltpolitik Deutschlands; das Reich allein, kein Einzelstaat, ist „Macht“ im Sinne des Völker- 
rechts, und als Reich, nicht als Einzelstaat hat der deutsche Staat die volle völkerrechtliche Ge- 
schäfts-und Aktionsfähigkeit, das Recht der Waffen, das Recht über Krieg und Frieden. Nicht 
minder wie auf dem Felde des nationalen Machtzwecks des Staates entfaltet die Reichsgewalt 
sich im Dienste des staatlichen Rechts= und des Kulturzwecks, „des Schutzes des im 
Bundesgebiete gültigen Rechts und der Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes“, wie die Ein- 
leitung der Reichsverfassung sagt. Die Weite und Mächtigkeit dieser Entfaltung wird bezeugt 
durch die vom Reiche hergestellte deutsche Rechtseinheit, durch das Dasein und die Kompetenz 
des Reichsgerichtes, durch die alljährlich Gesetz zu Gesetz fügende ausgedehnte Arbeit der Reichs- 
legislative auf fast allen, namentlich den wirtschaftlichen Gebieten des Kulturlebens. So bietet 
der materielle Wirkungskreis der Reichsgewalt ein durchaus staatliches Bild dar — das gleiche 
gilt von den Formen, in denen diese Gewalt sich betätigt. Keine von den drei Grundfunktionen 
der Staatsgewalt ist dem Reiche fremd: die Reichsgewalt gibt Gesetze wie ein Staat — Gesetze, 
welche allen anderen Satzungen im Reiche vorgehen, alles Landesrecht brechen, welche, ohne 
einer Verkündigung und auctoritatis interpositio der Einzelstaaten zu bedürfen, ihre verbind- 
liche Kraft gegen jedermann unmittelbar durch den Erlaß und die Publikation von Reiches 
wegen erlangen (RV. Art. 2) —z sie richtet und verwaltet, durch die Urteile ihrer Gerichtshöfe 
und die Verfügungen ihrer Behörden nicht nur die Einzelstaatsgewalten, sondern durch diese 
hindurch und über sie hinweg deren Untertanen direkt ergreifend, überall als ein wahrer und 
echter Staat, in schroffem Gegensatze zu der staatenbündischen Wirkungsweise, auf welche der 
Deutsche Bund (oben §6, IV) nach der Art seines Wesens sich beschränken mußte. 
Das Reich ist also seiner rechtlichen Natur nach zum ersten ein Staat. Zweitens ist es 
kein Einheitsstaat, sondern ein zusammengesetzter Staat (eine staatsrechtliche Staatenverbindung; 
s. oben § 2). Denn was der Gesamtheit, dem Reiche, recht, ist den Mitgliedem, den Einzel- 
staaten, billig: auch sie sind Staaten. Sie waren es und sind es im Reiche geblieben; 
„2 Dies ist auch die Auffassung des Reichsgerichts. Entsch. in Zivils. 44, 380: „Das 
Reichsgericht ist nicht oberster Gerichtshof des Deutschen Reichs in dem Sinne, daß es von sämt- 
lichen einzelnen Bundesstaaten als höchstes Gericht bestellt worden ist, somit in jeder zu seiner 
Verhandlung und Entscheidung gelangenden Rechtssache die Gerichtsbarkeit desjenigen Staates 
ausübt, aus dessen Gebiet die Sache stammt. Vielmehr leitet es seine Gerichtsgewalt von der 
Justizhoheit des Deutschen Reichs als eines nach der Reichsverfassung 
den einzelnen Bundesstaaten gegenüber selbständigen und ihnen 
übergeordneten Staatswesens ab: vgl. Art. 2 RV.“ 
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