Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 71 
genommen, daß aber dann weiterhin diese Angelegenheiten der einzelstaatlichen Tätigleit nicht 
absolut und ganz, sondern funktionell nur teilweise entzogen werden, indem in diesen 
seinen Angelegenheiten dem Reiche nicht die Gesamtheit aller Staatsfunktionen — Gesetz- 
gebung, Justiz, Verwaltung —, sonderm nur ein Teil, ein Ausschnitt dieser Gesamtheit, nämlich 
die „Beaufsichtigung“ einerseits, die „Gesetzgebung“ andererseits, zugesprochen 
wird, indes die vollziehende und richterliche Tätigkeit nach Maßgabe der Reichsgesetze und unter 
der Aufsicht des Reiches den Einzelstaaten verbleibt. 
Der — nicht völlig unbestrittene (vgl. einerseits Haenel a. a. O. S. 227 ff., anderer- 
seits Zorn, Staatsr. 1 113, 114) — Sinn des Art. 4 NV. ist also der, daß die Zuständigkeit 
des Reiches materiell auf den Kreis der in Art. 4 Ziff. 1—16 aufgezählten Angelegen- 
heiten und innerhalb dieses Kreises wiedenum formell auf die Funktionen der gesetzgeberischen 
Regulierung und der Aussichtsführung beschränkt ist. 
Diese verfassungsmäßige Regel wird durch eine anderweite allgemeine Vorschrift 
der RPV. ergänzt, sodann aber durch zahlreiche spezielle Normen der RV. und materiell 
verfassungsändernde Reichsgesetze durchbrochen. Die ergänzende Klausel ist Art. 7 Ziff. 2 
NV., welche der Reichsgewalt, und zwar dem Bundesrate, die Beschlußfassung „über die zur 
Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Ein- 
richtungen“, mit anderen Worten das gesamte Vollzugs= oder Ausführungs- 
verordnungsrecht (s. unten § 42), überträgt. Durchbrochen aber wird die oben an- 
gegebene Regel des Art. 4 — überall im Sinne und zu dem Zwecke einer Verstärkung 
der Reichskompetenz über das formelle Normalmaß — einmal durch diejenigen Verfassungs- 
vorschriften, welche, wie Art. 35, 52 Abs. 2, 61, sog. ausschließliche Gesetzgebungs- 
rechte des Reiches statuieren (s. hierüber unten § 41), ferner aber und namentlich durch die 
UÜberweisung gewisser Angelegenheiten an die Reichsgewalt zur „igenen und un- 
mittelbaren Verwaltung“ (Ausdruck des RGes,, betr. die Stellvertretung des Reichs- 
kanzlers vom 17. März 1878, 5 2), d. h. zur rechtsprechenden und administrativen Vollziehung 
durch eigene Gerichts- und Verwaltungsbehörden des Reiches (auswärtige Verwaltung, Kriegs- 
marine, Reichspost- und Telegraphenverwaltung: Art. 11, 48, 53). 
III. Besondere Gestaltungen der Kompetenzverhältnisse. — Es handelt sich hier um 
Ausnahmen von der soeben dargelegten gemeingültigen, d. h. grundsätzlich für das ganze Reich 
geltenden Kompetenzverteilung, also um Sonderrechte für einzelne Teile des Reichsgebietes. 
Solche besonderen Gestaltungen sind zu erblicken: 1. in den Reservatrechten oder 
Exemtionen, mit welchen gewisse Einzelstaaten, Bayern an der Spitze (Exemtionsstaaten), 
durch die Reichsverfassung ausgestattet sind, derart, daß die Kompetenz des Reichs dort in An- 
sehung bestimmter Angelegenheiten enger bemessen ist als im übrigen Reichsgebiet (das Nähere 
s. im überächsten Paragraphen, S. 75 ff.); 2. in den staatsrechtlichen Verhältnissen der 
„reichsunmittelbaren Gebiete“, d. h. des Reichslandes und der Schutzgebiete, wo 
Inhalt und Umfang der Reichsgewalt in Ermangelung des Daseins einer Einzelstaatsgewalt 
weit über das reichsverfassungsmäßige Maß hinauswächst, sich zur vollen Staatsgewalt 
eines Einheitsstaates „konsolidiert“ (Haenel, vogl. Staatsr. 1 823 ff.). In diesen 
reichsunmittelbaren Gebieten greift also die Reichskompetenz weiter als sonst: sie umfaßt außer 
ihrem regulären Inhalt auch noch alles, was durch die Reichsverfassung den Einzelstaaten 
nicht entzogen, also vorbehalten ist. 
IV. Die Kompetenz-Kompetenz. — Von dieser mit der Souveränetät gleichbedeutenden 
Eigenschaft und Befugnis der Reichsgewalt war bereits die Rede (oben § 10 S. 66, 67). Ver- 
möge der Kompetenz-Kompetenz kann die Reichslegislative, ohne hierbei an andere Formen 
als an die in Art. 78 RV. bezeichneten gebunden zu sein und ohne der Zustimmung Dritter 
(der Einzelstaaten als solcher) zu bedürfen, das im vorstehenden (II, III) geschilderte Kompetenz- 
recht einseitig inderm. Sie kann auf diesem Wege, durch verfassungänderndes Reichsgesetz, jede 
der beiden Kompetenzgrenzen verschieben, welche Art. 4 RV. aufrichtet, kann den Katalog der 
„Angelegenheiten“ des Reiches um weitere Nummern vermehren (Beispiele: Abänderung von 
Art. 4 Ziff. 9 RV. durch RG. vom 2. März 1873 und von Art. 4 Ziff. 13 — Ausdehnung der 
Gesetzgebungskompetenz auf das gesamte bürgerliche Recht — durch RGes. vom 20. Dezember
	        
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