Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

72 G. Anschütz. 
1873) und kann ebenso auch durch Veränderung der formellen Kompetenzgrenze zugunsten 
des Reiches Angelegenheiten, denen sich die Reichsgewalt bislang nur in legislatorischer und 
aufsichtsführender Wirkungsweise widmen konnte, der eigenen und unmittelbaren Verwaltung 
oder Gerichtsbarkeit des Reiches zuweisen. 
8§ 12. 3. Die Aufsicht des Reiches über die Einzelstaaten!. 
Innerhalb des Kreises der im Art. 4 RV. aufgezählten Reichsangelegenheiten ist, wie 
oben S. 70, 71 dargelegt, die Reichsgewalt funktionell grundsätzlich auf die Tätigkeitsformen der 
Gesetzgebung und der Beaussichtigung beschränkt. Uber die Gesetzgebungshoheit des Reiches 
und das Zustandekommen der Reichsgesetze vgl. unten §§ 40, 41. Die dem Reiche durch 
Art. 4 übertragene Aussichtsgewalt ist in der RV. nicht näher geregelt. Es gelten folgende 
Grundsätze: 
1. Gegenständliche Begrenzung der Reichsaufsicht. — Gegenstand 
der Reichsaussicht ist die gesamte einzelstaatliche Tätigkeit innerhalb des Kreises der durch Art. 4 
Ziff. 1—16 bezeichneten Angelegenheiten. Die Kompetenz des Reiches zur Beaufsichtigung 
reicht so weit wie seine Kompetenz zur Gesetzgebung und zessiert somit dort, wo — insbesondere 
kraft eines Exemtionsprivilegs (Reserwatrechts, vgl. unten S. 76ff.) — ein Recht des Reichs zur 
Gesetzgebung nicht besteht (z. B. in Bayern betreffs der Heimats- und Niederlassungsverhältnisse, 
Art. 4 Nr. 1 RV.). Die Aufsichtsgewalt hat das Dasein einzelstaatlicher Zuständigkeit und 
Tätigkeit zur Voraussetzung; soweit das Reich eine Angelegenheit in seine eigene und unmittel- 
bare Verwaltung genommen hat, wie z. B. Post, Telegraphie, Marine, wird das verfassungs- 
mäßige Beaufsichtigungsrecht infolgedessen gegenstandslos. 
Gegenstand der Reichsaufsicht ist die gesamte einzelstaatliche Tätigkeit in den An- 
gelegenheiten des Art. 4, auch die gesetzgeberische, desgleichen die richterliche — doch sind, was 
die letztere anlangt, der beaufsichtigenden Einwirkung durch den Grundsatz der Unabhängigkeit 
der Justiz (unten § 43) naturgemäß enge Grenzen gezogen —, vor allem aber die ausführende, 
verwaltende. 
Die Frage, ob die aufsichtliche Tätigkeit des Reiches in einer Angelegenheit schon vor 
reichsgesetzlicher Regelung derselben zulässig ist, ist streitig, aber zu bejahen (so die herrschende 
Meinung in der Literatur: v. Seydel, Kommentar S. 60, Haenel, Staatsr. S. 305, 
Laband in der Deutschen Juristenztg. 11, 614, 615; übereinstimmend die unwidersprochen 
gebliebene Außerung des Abg. Schwarze im verfassungberatenden Reichstage, Sten Ber. 
S. 315; — anders die neuere Ansicht der Reichsregierung, vgl. Außerungen des Reichskanzlers 
im Reichstage, 16. Februar 1899, des Staatssekretärs des Innern daselbst, 3. Mai 1906, des 
Staatssekretärs des Auswärtigen daselbst, 31. März 1911, ebenso Dambitsch, Reichs- 
verfassung S. 107 ff.). Die Aufsichtsgewalt des Reiches ergreift auf Grund der Verfassung 
Art. 4 alle dort namhaft gemachten Angelegenheiten, alle, ohne Unterschied, ob die be- 
treffende Materie schon reichsgesetzlich geregelt ist, oder ob dies noch nicht der Fall ist. Das Wort 
„Beaussichtigung“ ist im Art. 4 der „Gesetzgebung“ vorangestellt, womit gesagt werden wollte, 
daß „die nachstehenden Angelegenheiten“ zuvörderst der Aussichts-- und sodann auch der Gesetz- 
gebungsgewalt des Reichs unterworfen seien, daß mit anderen Worten nicht etwa die Aufsichts- 
gewalt ruhe, soweit und solange das Reich von seiner Gesetzgebungskompetenz noch keinen Ge- 
brauch gemacht hat. Es unterliegen also beispielsweise die Fremdenpolizei, das Eisenbahn- 
wesen, die Schiffahrt auf den mehreren Staaten gemeinsamen Wasserstraßen auch dermalen 
schon der Reichsaufsicht, obgleich diese Materien (vgl. RV. Art. 4 Nr. 1, 8, 9) durch Reichsgesetz 
noch nicht oder doch nur in vereinzelten Beziehungen geordnet sind. Zweck und Maßstab der 
Beaussichtigung ist in allen Fällen durch den Gedanken gegeben, daß die beaufsichtigte Landes- 
verwaltung nicht die Sicherheit und sonstige erhebliche Interessen des Reichs gefährden (z. B. 
1 Literatur. Eine monographische Darstellung dieser wichtigen Materie fehlt. Am besten omen- 
tiert Haenel, Stanter. 299 ff. Vgl. ferner Rümelin, Das Beausfsichtigungsrecht des Deutschen 
Reiches, Ztschr. f. d. ges. Staatswissenschaft 39 195 ffl.; Laband, Die Reichsaufsicht über die 
Fremdenpolizei, Deutsche Juristenztg. 2 614 ff.; v. Seydel, Kommentar zur NV. 59 ff.; 
Dambitsch, Die Verfassung des Deutschen Reichs uronb) 100 ff.
	        
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