Deutsches Staatsrecht. 73
durch Ausübung der Fremdenpolizei, etwa durch Ausweisung von Ausländern, das Reich nicht
der Möglichkeit intemationaler Konflikte aussetzen) darf. Im übrigen aber hat die Reichs-
aufsicht darauf zu halten, daß von den Einzelstaatsverwaltungen die Reichsgesetze und Reichs-
verordnungen, soweit aber solche nicht oder noch nicht vorhanden sind, die Landesgesetze
beobachtet werden (letzterer Beaussichtigungsmaßstab war in dem preuß. Entwurf der nordd.
B., Art. 5 klar zum Ausdruck gebracht: „die Handhabung der (se. Landes-esetze, welche
gegenwärtig innerhalb des Bundesgebietes über die im Art. 4 benannten Gegenstände in Gültig-
keit sind, unterliegt der Aufsicht des Bundes“).
Von der positiven Unterstellung der im Art. 4 bezeichneten Angelegenheiten unter die
Aufsicht des Reichs bleibt unberührt das Recht des Reichs, auch außerhalb des Rahmens des
Art. 4, soweit es sich also um dort nicht aufgezählte partikulare Kompetenzen handelt (z. B. Ver-
kehr der Einzelstaaten mit auswärtigen Staaten), darüber zu wachen, daß die Einzelstaaten
ihre Pflichten gegen das Reich (z. B. die Treupflicht) nicht verletzen. Dieses Recht des Reichs
ist vom Bundesrate auszuüben: RV. Art. 19.
2. Organe der Reichsausfsicht sind: für die Beaufsichtigung der reichsrechtlich ge-
regelten Verwaltungszweige der Kaiser, die unter ihm tätigen, mit aufsichtlichen Funktionen
betrauten Reichsbehörden (Reichskanzler, Reichseisenbahnamt, Reichsaufsichtsbeamte in der
Verwaltung der Zölle und Reichssteuern, Art. 36 Abs. 2 RV. usw.) und der Bundesrat, für die
reichsrechtlich noch nicht geordneten Angelegenheiten des Art. 4 RV. allein der Bundesrat.
Die Zuständigkeit des Kaisers ist bestimmt und begrenzt durch RV. Art. 17. Wenn es dort heißt,
daß dem Kaiser die Uberwachung der Ausführung der Reichsgesetze zu-
stehe, so ist der Sinn der: der Kaiser hat zu „überwachen“, d. h. das Beaufsichtigungsrecht des
Reichs auszuüben nur, soweit es sich um die Befolgung der Reichs gesetze (einschließlich
aller Reichsverordnungen), nicht dagegen, soweit es sich, bei noch mangelndem Reichsgesetz,
um die Landesgesetzmäßigkeit der Einzelstaatsverwaltung handelt. Gehilfen und Vollzugs-
organe dieser kaiserlichen Tätigkeit sind der Reichskanzler, die obersten Reichsämter und die
erwähnten Spezialbehörden bzw. Beamten des Reichs. Das Verhältnis des Kaisers zum
Bundesrat in Beaufsichtigungsangelegenheiten ist dieses: Der Kaiser hat nur eu „überwachen“.
Er hat sich, unter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, darüber zu unterrichten, ob und welche
„Mängel“, d. h. Verfehlungen gegen die Gesetze und Verordnungen des Reichs, bei der einzel-
staatlichen Geschäftsgebarung „heworgetreten sind“ (Art. 7 Ziff. 3 RV.). Er hat solche Mängel
festzustellen und zu beanstanden bzw. beanstanden zu lassen, nicht aber sie ab zustellen, d. h.
nicht in der Soche endgültig zu entscheiden, falls der betreffende Einzelstaat das Vorliegen von
Mängeln, sei es überhaupt, sei es in dem behaupteten Maße, bestreitet. In solchen Fällen.
ist die Entscheidung von dem Bundesrate zu treffen — RV. Art. 7 Ziff. 3 —, welcher über
die bei der einzelstaatlichen Verwaltung der Zölle und Reichssteuern bemerkten Mängel, auch
außer und abgesehen von dem Falle der Meinungsverschiedenheit zwischen Kaiser und Einzel-
staat, zu beschließen (RV. Art. 36 Abs. 2), sowie stets die Modalitäten der Beseitigung der
„Mängel“ zu bestimmen hat. Nur bei der Beaussichtigung der einzelstaatlichen Militär-
verwaltung ist die vorbezeichnete Zuständigkeit des Bundesrates ausgeschaltet: hier ver-
einigt sich die „Inspektion“ und das Recht, „die Abstellung der dabei vorgefundenen Mängel
anzuordnen“, in der Hand des Kaisers (RV. Art. 63 Abs. 3; unten S. 105, 108).— Soweit die Ver-
letzung nicht von Reichsgesetzen oder verordnungen, sondern von Landesgesetzen oder von bloßen
Interessen des Reichs bemängelt werden will, erscheint der Bundesrat als einzige und
alleinige Instanz der Reichsaufsichtsgewalt — eine Zuständigkeit, welche sich jedoch nicht auf
Art. 7 Ziff. 3 RV., woselbst nur von mangelhafter Ausführung der Reichs vorschriften die
Rede ist, gründet, sonderm aus der unten S. 95 ff. — zu erörternden allgemeinen staatsrecht-
lichen Stellung des Bundesrates (Präsumtion der Kompetenz) folgt.
3. Was die Formenund Mittedl der Aussichtsführung anlangt, so ist im allgemeinen
zu bemerken, daß die Aussichtsgewalt den Einzelstaat als solchen, als geschlossene Einheit,
erfaßt und demgemäß ihre Willensakte grundsätzlich (soferm durch Reichsgesetz nicht ein anderes
bestimmt ist) nur gegen die den Staat nach außen verkörpemde Regierung, nicht aber
gegen die unteren Verwaltungsstellen unmittelbar richten kann. Im einzelnen ist über die