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Wahrhafte Sonderrechte, Privilegien im Rechtssinne kennt die Reichsverfassung
nur in Gestalt einmal der verfassungsmäßigen Sonderrechte oder „Re-
servatrechte“ (Art. 78 Abs. 2 RV.) und sodann der singulären vertragsmäßigen
Sonderrechte.
1. Mit dem — von der NV. selbst nicht angewandten — Ausdruck „Resewatrechte“ be-
zeichnet der Sprachgebrauch der staatsrechtlichen Literatur und des politischen Lebens diejenigen
Staatenrechte, welche Art. 78 Abs. 2 RV. mit der Wendung „bestimmte Rechte ein-
zelner Bundesstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit“ um-
schreibt, und denen dort ein erhöhter Schutz gewährt ist durch die Anordnung, daß die Ver-
fassungsvorschriften, auf welchen dergleichen Rechte beruhen, nicht im Wege des gewöhnlichen
Verfassungsänderungsverfahrens (Art. 78 Abs. 1), sondern nur durch ein „mit Zustimmung
des berechtigten Bundesstaates“ erlassenes verfassungsänderndes Reichsgesetz abgeändert werden
können. Im Hinblick auf die Tragweite dieser besonderen Erschwerung gewisser Verfassungs-
änderungen ist es von großer praktischer Bedeutung, festzustellen, welche Rechte und Ver-
fassungsvorschriften Art. 78 Abs. 2 meint.
Die Frage ist bestritten. Während die eine Meinung (zuerst aufgestellt von dem sächsischen
Minister Frhr. v. Friesen, in der Literatur vertreten durch Laband und v. Seydel;
vgl. Meyer-Anschütz § 164 Anm. 19) den Schutz des Art. 78 Abs. 2 auf sämtliche objektive
Ungleichheiten im Bestande der Staatenrechte, mithin auf alle Fälle, wo ein Staat vor irgend-
einem andem faktisch etwas voraus hat, erstrecken und insbesondere auch das Recht jedes Einzel-
staates auf die ihm durch Art. 6 RV. verliehene Stimmenzahl im Bundesrate hierher beziehen
will, haben andere — G. Meyer, Haenel, Zorn, Jellinek (vgl. die näheren An-
gaben bei G. Meyer-Anschütz a. a. O.) — sich im wesentlichen dahin geeinigt, daß
Art. 78 Abs. 2 nur solche Vorschriften der Reichsverfassung (dieser selbst, nicht anderer
Reichsgesetzel) im Sinne habe, welche Privilegierungen im Gebiete dermne gativen Staaten-
rechte loben S. 74, erste Gruppe) gewähren, welche m. a. W. durch singuläre Erweiterungen
der reichsfreien Sphäre für gewisse Einzelstaaten Exemtionen von der gemeingültigen
Reichskompetenz begründen. Dieser letzteren Meinung dürfte beizupflichten sein. Und zwar
aus Gründen, die sich einerseits aus der Entstehungsgeschichte, anderseits aus dem Wortlaut
und dem allgemeinen Charakter der Bestimmung des Art. 78 Abs. 2 RV. ergeben.
Die Entstehungsgeschichte des Art. 78 Abs. 2 RV. geht auf die Novembewerträge, genauer
bis auf das Schlußprotokoll zu dem mit Baden und Hessen geschlossenen Vertrage vom 15. No-
vember 1870 (oben S. 61) zurück. Der norddeutschen Bundesverfassung war eine gleich-
oder ähnlich lautende Vorschrift fremd, eine Tatsache, die sich jedenfalls dann zwangslos und
einfach erklärt, wenn man annimmt, daß sich Art. 78, Abs. 2 auf Rechte beziehe, welche der
Norddeutsche Bund nicht oder doch nur in verschwindendem Maße kannte, d. h. eben auf die
Privilegierungen der reichsfreien Sphäre, die Exemtionen. Die einzige Exemtion, welche der
Text der nordd. BV. (Art. 34) bewilligt, ist das Recht der Hansestädte auf Ausschluß vom
Bundeszollgebiete; eine allgemeine Schutzvorschrift für Exemtionen nach Art. des nach-
maligen Art. 78 Abs. 2 wäre daher damals gegenstandslos gewesen (die hanseatische Exemtion.
war durch die auch in die RV. übergegangene besondere Bestimmung geschützt, daß sie so lange
bestehen solle, bis die freien Städte selbst ihre Aufhebung beantragen würden). Erst mit der
Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum Reiche erschienen, durchweg als Zugeständnisse
an die neu eintretenden süddeutschen Staaten, ganz besonders an Bayern, Exemtionen in
größerer Anzahl und Bedeutung: die Südstaaten „reservierten“ sich bei ihrem Eintritt in das
Reich gewisse, normalerweise dem Reiche anheimfallende Stücke ihrer Kompetenz: Reservate,
welche ihnen von seiten der Reichsgewalt als Ausnahme= und Sonderrechte bewilligt wurden.
Nur auf diese Exemtionern bezieht sich die zuerst, wie erwähnt, in dem badisch-
hessischen Schlußprotokoll auftauchende, dann als Art. 78 Abs. 2 in den Text der RV. auf-
genommene Schutzvorschrift. Die Richtigkeit dieser Interpretation ergibt sich insbesondere
auch aus dem bayerischen Vertrage vom 23. November 1870. Ziff. V dieses Vertrages
lautet: „Diejenigen Vorschriften der Verfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner
Oben J II, III.