Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

76 G. Anschütz. 
Wahrhafte Sonderrechte, Privilegien im Rechtssinne kennt die Reichsverfassung 
nur in Gestalt einmal der verfassungsmäßigen Sonderrechte oder „Re- 
servatrechte“ (Art. 78 Abs. 2 RV.) und sodann der singulären vertragsmäßigen 
Sonderrechte. 
1. Mit dem — von der NV. selbst nicht angewandten — Ausdruck „Resewatrechte“ be- 
zeichnet der Sprachgebrauch der staatsrechtlichen Literatur und des politischen Lebens diejenigen 
Staatenrechte, welche Art. 78 Abs. 2 RV. mit der Wendung „bestimmte Rechte ein- 
zelner Bundesstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit“ um- 
schreibt, und denen dort ein erhöhter Schutz gewährt ist durch die Anordnung, daß die Ver- 
fassungsvorschriften, auf welchen dergleichen Rechte beruhen, nicht im Wege des gewöhnlichen 
Verfassungsänderungsverfahrens (Art. 78 Abs. 1), sondern nur durch ein „mit Zustimmung 
des berechtigten Bundesstaates“ erlassenes verfassungsänderndes Reichsgesetz abgeändert werden 
können. Im Hinblick auf die Tragweite dieser besonderen Erschwerung gewisser Verfassungs- 
änderungen ist es von großer praktischer Bedeutung, festzustellen, welche Rechte und Ver- 
fassungsvorschriften Art. 78 Abs. 2 meint. 
Die Frage ist bestritten. Während die eine Meinung (zuerst aufgestellt von dem sächsischen 
Minister Frhr. v. Friesen, in der Literatur vertreten durch Laband und v. Seydel; 
vgl. Meyer-Anschütz § 164 Anm. 19) den Schutz des Art. 78 Abs. 2 auf sämtliche objektive 
Ungleichheiten im Bestande der Staatenrechte, mithin auf alle Fälle, wo ein Staat vor irgend- 
einem andem faktisch etwas voraus hat, erstrecken und insbesondere auch das Recht jedes Einzel- 
staates auf die ihm durch Art. 6 RV. verliehene Stimmenzahl im Bundesrate hierher beziehen 
will, haben andere — G. Meyer, Haenel, Zorn, Jellinek (vgl. die näheren An- 
gaben bei G. Meyer-Anschütz a. a. O.) — sich im wesentlichen dahin geeinigt, daß 
Art. 78 Abs. 2 nur solche Vorschriften der Reichsverfassung (dieser selbst, nicht anderer 
Reichsgesetzel) im Sinne habe, welche Privilegierungen im Gebiete dermne gativen Staaten- 
rechte loben S. 74, erste Gruppe) gewähren, welche m. a. W. durch singuläre Erweiterungen 
der reichsfreien Sphäre für gewisse Einzelstaaten Exemtionen von der gemeingültigen 
Reichskompetenz begründen. Dieser letzteren Meinung dürfte beizupflichten sein. Und zwar 
aus Gründen, die sich einerseits aus der Entstehungsgeschichte, anderseits aus dem Wortlaut 
und dem allgemeinen Charakter der Bestimmung des Art. 78 Abs. 2 RV. ergeben. 
Die Entstehungsgeschichte des Art. 78 Abs. 2 RV. geht auf die Novembewerträge, genauer 
bis auf das Schlußprotokoll zu dem mit Baden und Hessen geschlossenen Vertrage vom 15. No- 
vember 1870 (oben S. 61) zurück. Der norddeutschen Bundesverfassung war eine gleich- 
oder ähnlich lautende Vorschrift fremd, eine Tatsache, die sich jedenfalls dann zwangslos und 
einfach erklärt, wenn man annimmt, daß sich Art. 78, Abs. 2 auf Rechte beziehe, welche der 
Norddeutsche Bund nicht oder doch nur in verschwindendem Maße kannte, d. h. eben auf die 
Privilegierungen der reichsfreien Sphäre, die Exemtionen. Die einzige Exemtion, welche der 
Text der nordd. BV. (Art. 34) bewilligt, ist das Recht der Hansestädte auf Ausschluß vom 
Bundeszollgebiete; eine allgemeine Schutzvorschrift für Exemtionen nach Art. des nach- 
maligen Art. 78 Abs. 2 wäre daher damals gegenstandslos gewesen (die hanseatische Exemtion. 
war durch die auch in die RV. übergegangene besondere Bestimmung geschützt, daß sie so lange 
bestehen solle, bis die freien Städte selbst ihre Aufhebung beantragen würden). Erst mit der 
Erweiterung des Norddeutschen Bundes zum Reiche erschienen, durchweg als Zugeständnisse 
an die neu eintretenden süddeutschen Staaten, ganz besonders an Bayern, Exemtionen in 
größerer Anzahl und Bedeutung: die Südstaaten „reservierten“ sich bei ihrem Eintritt in das 
Reich gewisse, normalerweise dem Reiche anheimfallende Stücke ihrer Kompetenz: Reservate, 
welche ihnen von seiten der Reichsgewalt als Ausnahme= und Sonderrechte bewilligt wurden. 
Nur auf diese Exemtionern bezieht sich die zuerst, wie erwähnt, in dem badisch- 
hessischen Schlußprotokoll auftauchende, dann als Art. 78 Abs. 2 in den Text der RV. auf- 
genommene Schutzvorschrift. Die Richtigkeit dieser Interpretation ergibt sich insbesondere 
auch aus dem bayerischen Vertrage vom 23. November 1870. Ziff. V dieses Vertrages 
lautet: „Diejenigen Vorschriften der Verfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner 
Oben J II, III.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.