Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 77 
Bundesstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit festgestellt sind, insbesondere, so— 
viel Bayern angeht, die unter Ziffer III dieses Vertrages auf- 
geführten Bestimmungen können nur mit Zustimmung des berechtigten Bundes- 
staates abgeändert werden.“ In Ziff. III sind nun aber nicht die besonderen Mitgliedschafts- 
rechte Bayerns, z. B. sein Recht auf sechs Stimmen im Bundesrate, sondern nur die 
Exemtionen dieses Staates von der Reichskompetenz aufgeführt. — 
Weitere Belege für die hier vertretene Auslegung des Art. 78 Abs. 2 liefert sodann einmal 
der Wortlaut der Bestimmung (er spricht von Rechten #einzelner , nicht „der einzelnen“ 
Bundesstaaten, meint also wohl nicht Rechte, die allen einzelnen, sondern solche, die nur 
wenigen Staaten zustehen; verstärkte Mitgliedschaftsrechte haben viele Staaten; Exem- 
tionen dagegen genießen nur Bayern, Württemberg, Baden, Bremen und Hamburg), sowie 
folgende Erwägung: Art. 78 Abs. 2 ist Ausnahmesatzung (reguläres Verfassungsänderungs- 
verfahren: Art. 78 Abf. 1), daher strikt, d. h. jedenfalls so zu interpretieren, daß der gewährte 
außerordentliche Schutz — Veto des Berechtigten gegen Abänderung seiner Berechtigung — nur 
wirklichen Sonderrechten, Privilegien, zugute kommt. Dies ist die offen- 
sichtliche ratio legis: besonderer Schutz für besondere Rechte. Der Charakter von Sonder- 
rechten, Ausnahmen von dem Regelrecht, eignet nun allerdings den Exemtionen — es 
ist in jeder Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung, wenn die kaiserliche Befehlsgewalt über das 
Reichsheer den bayerischen Truppen gegenüber in Friedenszeiten nicht gilt —, nicht aber, 
wie oben bereits hervorgehoben, den Rechten der größeren Einzelstaaten auf verstärkte Be- 
teiligung bei der Bildung des Reichswillens. Die Bemessung des Stimmgewichts im Bundes- 
rate nach der Größe der Staaten, die Übertragung der Präsidialrechte an Preußen — dies 
sind leitende politische und staatsrechtliche Grundsätze der Reichsverfassung, und ist es daher 
keine ausnahmsweise Vergünstigung, sondern nur eine gerechte Würdigung des Größenverhält- 
nisses, wenn Bayern zwei Stimmen im Bundesrate mehr hat als Sachsen und Württemberg, 
wie es denn vollends ganz absurd wäre, die Präsidialrechte Preußens als privilegmäßige Sin- 
gularität und nicht als einfachen Ausdruck eines der Reichsverfassung immanenten, sie von 
Anfang bis zu Ende beherrschenden Prinzips aufzufassen. 
Nach alledem bezieht sich Art. 78 Abs. 2 nicht auf die Ungleichheiten im Bestande der 
aktiven Mitgliedschaftsrechte, insbesondere nicht auf die Stimmrechte im Bundesrat und nicht 
auf die Präsidialrechte Preußens, sonderm nur auf die Privilegierungen, welche die reichsfreie 
Sphäre mancher Einzelstaaten genießt, — auf die Exemtionen von der gemeingültigen Reichs- 
kompetenz, soweit sie auf „Vorschriften der Reichsverfassung“ (s. d. Wortlaut des Art. 78 Abs. 2) 
beruhen. Solche, Resewatrechte gewährende Vorschriften der RV. sind: Art. 4 Nr. 1 (Bayern), 
34 (Bremen und Hamburg), 35 Abs. 2 (Bayern, Württemberg, Baden), 46 Abs. 2 (Bayern), 
52 (Bayern, Württemberg), Schlußbestimmung zu Abschnitt XI (Bayerm, Württemberg) und 
zu Abschn. XII (Bayern). — ÜUber den Sinn der Worte „Zustimmung des berechtigten Bundes- 
staates“ im Art. 78 s. unten § 20 S. 97, 100. — 
2. Neben den soeben erörterten Resewatrechten des Art. 78 Abs. 2 gehen nun noch einige 
wenige andere Sonderrechte her, auf welche sich diese Verfassungsvorschrift um deswillen nicht 
bezieht, weil sie nicht auf Normen der Reichsverfassung, sondern auf besonderen Verabredungen 
der Novembewerträge beruhen, die durch das Publikationsgesetz zur Reichsverfassung (§ 3) 
zwar in Geltung erhalten, nicht aber in die Verfassung aufgenommen, auch nicht zu integrieren- 
den Bestandteilen derselben erklärt worden sind: auf den Schlußprotokollen vom 
15., 23. und 25. November 1870. Die hierauf sich gründenden Staatenrechte kann man ver- 
tragsmäßige Sonderrechte nennen (zum Unterschied von den oben unter 1. besprochenen 
verfassungsmäßigen Rechten), weil ihr Fundament noch heute in einem von dem 
verpflichteten Teil, der Reichsgewalt, in Gesetzesform (§ 3 a. a. O.) anerkannten und bekräftigten 
Vertragsverhältnis erblickt werden muß. Diese vertragsmäßigen Sonderrechte sind an Zahl 
und Bedeutung nur gering. Es gehören hierher: die Exemtion Bayerns von der Im- 
mobiliawersicherungsgesetzgebung des Reiches (bayr. Schlußprot. v. 23. Nov. 1870 IV), das 
Recht Bayerns auf den Vorsitz im Bundesrat bei Verhinderung Preußens (das. IX) und zwei 
Zusicherungen, welche Württemberg in bezug auf künftige Maßnahmen der Eisenbahn- 
und Postgesetzgebung des Reiches erhalten hat (württemb, Schlußprot. v. 25. Nov. 1870 Nr. 2
	        
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