Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 79 
und Sachsen ergibt sich dies aus dem Wortlaut der Verfassungen (württ. Verfass. S5 2 und 85; 
sächs. Verfass. § 2). Die bayerische und die badische Verfassungsurkunde enthalten sich jed- 
weder Spezialbestimmung über die Vomahme von Gebietsveränderungen und sprechen nur 
den allgemeinen Satz aus, daß das Staatsgebiet „unteilbar und unveräußerlich" 
sei (bayr. Verfass. Tit. III § 1; bad. Verfass. 5 3). Hierüber ist folgendes zu bemerken: soweit 
dieses Teilungs- und Veräußerungsverbot sich gegen privatrechtliche Handlungen des 
Monarchen oder des regierenden Hauses richten will (Kauf-, Tausch-, Erbverträge, Testamente), 
enthält es eine Selbstverständlichkeit, eine heute überflüssige Vorkehr gegen Mißbräuche, welche 
dermalen ohnehin unmöglich sind, weil ihnen der Rechtsboden, auf dem sie gedeihen konnten 
und gediehen, die privatrechtlich-patrimoniale Staatsauffassung, durch den Sieg des modernen 
Staatsgedankens entzogen ist. Soweit aber jener Satz nicht sowohl dem Landesherrn und 
seinem Hause als dem Staate selbst die Veräußerung und Teilung seines Territoriums 
verbieten will, ist ihm nicht dasjenige Maß verbindlicher Kraft beizulegen, welches ihm an- 
scheinend innewohnt. Er macht nämlich Gebietsabtretungen durch staatsrechtliche Dispositionen 
weder faktisch noch auch rechtlich unmöglich, sondern besagt nur, daß jede „Veräußerung und 
Teilung“, also jede Verkleinerung des Staatsgebietes, eine Verfassungsänderung 
ad hoc involviert und anders als in den Formen der verfassungsändernden Landesgesetz- 
gebung nicht vorgenommen werden darf, — während von Gebietserwerbungen hier 
überall nicht die Rede ist und sie somit, bei dem sonstigen Schweigen der Verfassungen über 
die Kompetenz, nach dem diese und alle anderen deutschen Landesverfassungen beherrschenden 
Prinzip loben S. 42—44 und unten § 206) in den Bereich der monarchischen Prärogative 
fallen, durch Mkt des Staatsoberhauptes ohne Gesetzesform, ohne Zustimmung der Volks- 
vertretung (also im Verwaltungswege) rechtsgültig bewirkt werden können. 
Was nun die Formen anlangt, in denen die Grenzen des Reichsgebietes ver- 
ändert werden kannen, so enthält die Reichsverfassung hierüber keine ausdrückliche Bestimmung. 
Die Entscheidung der Frage ist aber aus Art. 1 und 78 RV. zu entnehmen. Art. 1 handelt 
vom Reichsgebiet — „Bundesgebiet“, wie die Uberschrift sagt. Es heißt dort: „das Bundes- 
gebiet besteht aus den Staaten .“ (folgen die Namen der 25 Einzelstaaten). Damit wollte 
gesagt sein: als Reichsgebiet wird bezeichnet und verfassungsrechtlich festgelegt 
die Gesamtheit der Gebiete der 25 Einzelstaaten in dem territorialen Bestande der Gegenwart, 
d. h. zur Zeit des Inkrafttretens der RV.; die Reichsgrenzen sind die damaligen Auslandsgrenzen 
der Einzelstaaten. Jede Veränderung dieser Grenzen, sei es durch Erwerbungen vom Aus- 
land, sei es durch Abtretung an dasselbe, schließt mithin eine Abänderung des Art. 1 RV. in 
sich und bedarf der Form eines verfassungsändernden (gemäß Art. 78 Abs. 1 RV. im Bundes- 
rate dem Veto einer Minderheit von 14 Stimmen unterliegenden) Reichsgesetzes. Beispiele 
solcher Reichsgesetze: Gesetz, betr. die Vereinigung von Elsaß und Lothringen mit dem Deutschen 
Reiche, vom 9. Juni 1871; Gesetz, betr. die Vereinigung von Helgoland mit dem Deutschen 
Reiche, vom 15. Dezember 1890; die zwei Gesetze über die Verlegung der deutsch-österreichischen 
und der deutsch-dänischen Grenze, beide vom 22. Januar 1902; Gesetz, betr. die Verlegung der 
deutsch-schweizerischen Grenze, vom 31. Juli 1908. Zum Reichsgebiet gehört nach dem Reichs- 
gesetz, betr. die Einführung der Verfassung in Elsaß-Lothringen, vom 25. Juni 1873, 52, auch 
das Reichsland Elsaß-Lothringen; die aus Art. 1 RV. abgeleitete Regel über die Veränderung 
der Auslandsgrenzen des Reichs bezieht sich mithin auch auf die Auslandsgrenzen von Elsaß- 
Lothringen. Nicht dagegen bilden die Schutzgebiete (unten § 25) einen Bestandteil des 
Reichsgebietes im Sinne von Art. 1 RV. Hieraus und aus der dem Kaiser durch das Schutz- 
gebietsgesetz § 1 eingeräumten Machtvollkommenheit (unten S. 120) konnte man folgem, daß 
die Grenzen der Schutzgebiete durch Kaiserliche Verordnung ohne Zustimmung der gesetzgebenden 
Faktoren des Reichs abgeändert werden durften. Indessen ist diese Zuständigkeit des Kaisers 
neuerdings eingeschränkt worden: das (aus Anlaß des deutsch-französischen Gebietsaustausches 
in Zentralafrika auf Initiative des Reichstags ergangene) Gesetz vom 16. Juli 1912 (RGl. 
443) bestimmt: „Zum Erwerb und zur Abtretung eines Schutzgebietes oder von Teilen eines 
solchen bedarf es eines Reichsgesetzes. Diese Vorschrift findet auf Grenzberichtigungen keine 
Anwendung.“ 
Es ist jetzt auf die Frage zurückzukommen, ob das Reich und die Einzelstaaten Verände-
	        
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