Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Vierter Band. (4)

Deutsches Staatsrecht. 81 
B. Gebietserwerbungen. 1. Erwerb durch das Reich. Daß dem Reiche das 
Recht zusteht, Gebietserwerbungen zu machen, und zwar auf Grund aller — originären und 
derivativen — Erwerbsarten, welche das Völkerrecht kennt, folgt aus seiner Eigenschaft als 
souveräner Staat. Die Gebietshoheit des Reichs entfaltet sich hier vollkommen unbeschränkt, 
da ein Zusammentreffen mit der einzelstaatlichen Gebietshoheit dort, wo bisher kein Reichs- 
gebiet, also auch kein Einzelstaatsgebiet war, nicht in Frage kommt. Die Einbeziehung der — gleich- 
viel, wie und von wem — völkerrechtlich erworbenen Fläche in das Reichsgebiet erheischt, wie 
oben S. 79 herwvorgehoben, die Form eines verfassungsändernden Reichsgesetzes; dieselbe 
Form ist erforderlich und ausreichend für die weiterhin zu treffende Bestimmung über die 
staatsrechtliche Natur und Zugehörigkeit des neuen deutschen Landes. In letzterer Beziehung 
ist viererlei möglich: Vereinigung mit einem der bestehenden Einzelstaaten, Vereinigung nur 
mit dem Reich ohne Einverleibung in das Gebiet eines Einzelstaates, Formierung eines neuen, 
26ten Einzelstaates aus dem erworbenen Gebiet, Erklärung der Erwerbung zum Schutzgebiet. 
Der erste dieser Wege wurde eingeschlagen bei der Erwerbung von Helgolandi durch Reichs- 
gesetz vom 15. Dezember 1890 wurde diese Insel dem Reichsgebiet einverleibt und gleichzeitig 
ihre Vereinigung mit Preußen von Reichs wegen genehmigt, eine Vereinigung, welche sodann, 
der preußischen Verfassung entsprechend (s. oben S. 78), im Wege der Landesgesetzgebung 
verfügt wurde (preußisches Gesetz vom 18. Februar 1891, G - 11). Der zweite mögliche Weg 
ist der bei dem Erwerb von Elsaß-Lothringern beschrittene (s. darüber unten § 24). 
Für die dritte Modalität, die Kreation eines neuen Einzelstaates, bietet die Geschichte 
des Reiches einen Vorgang bisher nicht dar. Daß zu einer solchen Kreation, also zur Aufnahme 
eines neuen Mitgliedes in den Reichsverband, die Zustimmung aller Einzelstaaten erforderlich 
sei (wie, vom Standpunkt seiner oben S. 64 ff. zurückgewiesenen Reichsauffassung aus, 
v. Seydel, Komm. S. 27, und der hier in dessen Gedankenbahnen wandelnde Zorn, 
Staatsr. 1 95 ff., behaupten), ist unrichtig. Ein Akt der Reichsgewalt in den Formen der Ver- 
fassungsänderung (letzteres wegen Ergänzung des Staatenverzeichnisses in Art. 1 RV.) ist zur 
Erreichung des in Rede stehenden Zweckes einerseits genügend, anderseits notwendig. — Die 
Erklärung einer Gebietserwerbung zum Schutzgebiet bzw. die Vereinigung derselben mit einem 
bestehenden Schutzgebiet erfordert ein (einfaches, nicht verfassungsänderndes) Reichsgesetz; 
vgl. RGes. vom 16. Juli 1912, oben S. 79. 
2. Erwerb durch die Einzelstaaten. Über Erwerbungen eines Einzelstaates von einem 
anderen s. oben unter A 2. Was den Erwerb außerdeutschen Gebietes durch die Einzel- 
staaten anlangt, so wird solcher von der herrschenden Meinung (Laband, G. Meyer, 
Haeneh) ohne Reichsgenehmigung für unzulässig, von v. Seydel, Komm. zu RV. Art. 1 
N. III, dagegen für zulässig erklärt, mit der Begründung, nirgends stehe geschrieben, daß der- 
gleichen Gebietserwerbungen den Einzelstaaten verboten seien; also seien sie erlaubt. Diese 
Deduktion ist formell zutreffend, erschöpft aber die Frage nicht. Denn wenn auch zuzugeben 
ist, daß die völkerrechtliche sowie die landes staatsrechtliche Gültigkeit der Gebietserwerbung 
von der Zustimmung des Reiches nicht abhängt, so bedarf doch der Einzelstaat, welchem außer- 
deutsches Gebiet (etwa durch Thronfolgerecht oder Staatsvertrag) zufällt, jener Zustimmung 
jedenfalls zur Aufnahme des Gebietszuwachses in das Reich. Es steht nun vollkommen im 
Ermessen der Reichsgewalt, diese Zustimmung in der gewiesenen Form des Verfassungs- 
a#nderungsgesetzes zu erteilen oder aber sie zu versagen und damit den beteiligten Einzelstaat 
ins Unrecht, nämlich in einen Widerspruch mit seinen Bundespflichten zu setzen, den Bundes- 
pflichten, welche den Einzelstaaten gebieten, mit ihrem ganzen Herrschaftsbereich dem Reiche 
anzugehören (Laband 1 198, 199), und ihnen die Inanspruchnahme und Behauptung einer 
des Reichs nicht bedingt. Eine andere Frage ist die, welche Rückwirkungen die vollzogene Ver- 
änderung in dem Staatenbestande auf die Reichsverfassung, insbesondere auf die Stimmenverteilung 
im Bundesrate, äußert. Die Entscheidung hierüber steht allein bei der Reichsgewalt, und zwar 
zunächst bei dem Bundesrate, welcher — vorbehaltlich der endgültigen Ordnung der Angelegenheit 
durch ein Verfassungsgesetz des Reiches — darüber zu beschließen haben würde, ob die Stimme 
des untergegangenen Staates als erloschen zu behandeln oder dem Staate, in welchen jener ein- 
verleibt worden ist, zugewachsen sei (ogl. Schulze, Deutsch. Staatsr. 2 S. 8 ff.). 
Enioklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band IV. 6
	        
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