Deutsches Staatsrecht. 91
8 18. 4. Bevorrechtete Klassen der Staatsangehörigen.
Es handelt sich hier um Ausnahmeerscheinungen in dem Bereiche der subjektiven öffent-
lichen Berechtigung. Die Regel, welche Ausnahmen erleidet, ist diejenige, welche die preußische
Verfassung, Art. 4, kurz und verständlich mit den Worten ausdrückt: „Alle Preußen sind vor
dem Gesetze gleich. Standesvorrechte finden nicht statt.“ In anderem Zusammenhange (oben
& 7, S. 39) wurde Sinn und Atbsicht dieser und ähnlicher Verfassungssätze dargelegt: Ab-
schaffung der aus dem Mittelalter herstammenden geburtsständischen Rechts- und
Gesellschaftsordnung und Proklamation der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Gleichberechti-
gung aller Staatsangehörigen. Das hiermit bezeichnete Programm, die Nivellierung der alten
Standesunterschiede, ist denn auch in der großen Hauptsache heute durchgeführt; die Standes-
vorrechte und ihre Träger, die privilegierten Geburtsstände, sind als solche beseitigt. Doch war
die Beseitigung keine radikale. Reste der alten Ordnung behaupten noch heute, kraft
besonderer reichs- und landesgesetzlicher Anordnungen, als Ausnahmen von der Regel ihre
Geltung. Solche Reste sind zu erblicken in den auf Geburt beruhenden Vorrechten, welche
einmal den Mitgliedern der in Deutschland regierenden sowie der
1866 entthronten (depossedierten) Fürstenhäuser und sodann den
standesherrlichen Familien zustehen. Dies sind die noch heute als solche an-
zuerkennenden bevorrechteten Klassen der deutschen Staatsangehörigen. Sie zu-
sammen bilden eine historische Standeseinheit, den hohen Adel Deutschlands: die Ge-
samtheit derjenigen Familien, welche im alten Reiche Reichsstandschaft und Landeshoheit
besaßen, und von denen ein kleiner Teil, die regierenden Dynastien der deutschen Einzel-
staaten, die Landeshoheit bis heute bewahrt hat, während der Rest, die Mehrzahl, diese
henschende Stellung durch die Ereignisse von 1806 und im weiteren Verlaufe des 19. Jahr-
hunderts, insbesondere durch den Krieg von 1866, verloren hat und seitdem in den Untertanen-
verband mächtigerer und glücklicherer Standesgenossen eingetreten ist (standesherrliche oder
mediatisierte Häuser).
Die ganz geringfügigen öffentlichrechtlichen Privilegien, welche in einzelnen deutschen
Staaten (zu denen — de jure — Preußen nicht gehört) gegenwärtig noch der niedere
Adel (meist schlechtweg „Adel“ genannt) genießt, reichen nicht aus, um die Bezeichnung des-
selben als einer bevorrechteten Klasse zu rechtfertigen. Anderer Meinung Meyer-Anschütz
8 229a, richtig dagegen Schulze, D. Staatsr. I 393: „der (niedere) Adel ist aus einem
Stande eine ehrenvolle erbliche Titularauszeichnung geworden ... Die Lehre vom Adel gehört
daher systematisch jetzt zu der Kategorie der nicht mit Vorrechten verbundenen Auszeichnungen,
welche der Monarch zu verleihen befugt ist."
1. Die Mitglieder der regierenden Fürstenhäuser, d. h. der-
jenigen Familien, aus denen, nach der landesverfassungsmäßigen Thronfolgeordnung (unten
z 2), die Monarchen der deutschen Einzelstaaten hervorgehen. Mitglieder dieser Familien
sind außer ihren Oberhäuptern, den Monarchen: 1. deren Gemahlinnen und Witwen; 2. die
Agnaten des Hauses, d. h. die vollbürtigen, aus einer hausgesetzmäßigen Ehe stammenden
Prinzen sowie deren Gemahlinnen und Witwen; 3. die vollbürtigen, aus hausgesetzmäßiger
Ehe stammenden Prinzessinnen bis zu ihrer Verheiratung mit dem Angehörigen eines anderen
Hauses. — Die Vorrechte der Mitglieder dieses Personenkreises beruhen teils auf Reichs-, teils
auf Landesgesetzen. Das Reichsrecht gewährt: 1. Exemtion von dem gemeinen Privat-, Prozeß-
und Gerichtsverfassungsrecht, d. h. dem BGB., den Prozeßordnungen und dem GV. nach
Maßgabe der Hausverfassungen und Landesgesetze: E. BG. Art. 57, E. BPO. 85, E. G.
(letztere Vorschriften besagen, daß die betreffenden Reichsgesetze, das BG#., usw. auf die
1 Literatur. Meyer-Anschütz 5sF 227—229 a; Schulze, Deutsch. Staatsr. 1
390 ff.; derselbe, Das deutsche Fürstenrecht, in der 5. Aufl. dieser Enzykl., S. 1349 ff.;
Heffter, Die Sonderrechte der souveränen und der mediatisierten, vormals reichsständischen
Häuser; Brie, Art. „Landesherrliches Haus" und Art. „Mediatisierte“ in v. Stengel-
Fleis chmanns Woörterb. d. deutsch. Staats- und VerwaltKR.: Bornhak, Preuß. Staatsr.
(2. Aufl.) 1 z§ 48—57; Anschütz, Preuß. Verf Urk. 1 110 ff., 116 ff.; Rehm, Modernes
Fürstenrecht (1904).